Somatic Experiencing: Warum zittern wir bei Schock – und was hat dieser Tiger damit zu tun?
Eine Gazelle zittert nach erfolgreicher Flucht, als würde niemand hinsehen. Uns Menschen hingegen ist ein solcher Kontrollverlust nicht geheuer. Was macht das mit unserer Psyche? Somatic Experiencing eröffnet einen frischen Blick auf Trauma und einen Weg zurück in die Lebenskraft.
Was macht der Tiger hier? Die Antwort gibt's am Ende des Artikels.
Ankunft und Aufbruch
1969, Vereinigte Staaten von Amerika.
In den Strassen leisten Menschen in bunten Kleidern Widerstand gegen einen brutalen und verlustreichen Angriffskrieg im Regenwald Vietnams. Sie sind beeinflusst von einem erwachenden globalen Bewusstsein durch das erste vollständige Bild unseres Heimatplaneten aus dem All.
Überhaupt ist plötzlich viel los im Orbit: Zur gleichen Zeit wird der »Wettlauf ins All« von amerikanischen Wissenschaftlern und Astronauten gewonnen.
Die Raumsonde Apollo 11 berührt den blassen Staub des Mondes und lenkt in der eisigen Stille einer dünnen Atmosphäre erfolgreich von einem ebenso stillen Durchbruch in der Trauma-Therapie ab.
Sichtbarer als Fortschritte in der Trauma-Therapie: Ein Bild, das durch die Medien ging.
Ein biologischer Aus-Knopf für das Überleben in freier Wildbahn
Psychosomatik war damals ein junges Feld.
Trotzdem oder gerade deshalb wurde Dr. Peter Levine von der Frage wach gehalten, warum Tiere in freier Wildbahn so selten Traumata erfahren – und das, obwohl sie so häufig lebensbedrohlichen Situationen ausgesetzt sind.
Er fand eine Antwort. Eine Gazelle auf der Flucht bricht oft zusammen, bevor sie von einem Löwen gefangen und getötet werden kann. Der Totstell-Reflex der Gazelle – ein Mechanismus ihres vegetativen Nervensystems – ist ein automatischer Schutz vor Überlastung.
Weil der Löwe kein Aas frisst, überlebt die Gazelle den Angriff häufig, sofern ihr biologischer Aus-Knopf rechtzeitig aktiviert wurde. Nach ein paar Minuten in unfreiwilliger, doch lebensrettender, Ruheposition steht sie auf und beginnt, am ganzen Körper zu zittern.
Traumata sind das Resultat der stärksten Kräfte, die der menschliche Körper aufzubieten vermag.
– Dr. Peter Levine
Die Anspannung, die zuvor in ihrem Nervensystem aufgebaut wurde, entlädt sich durch ein kraftvolles Zittern der Muskeln. Kurz darauf springt sie weiter – körperlich und geistig unversehrt.
Wird sie jedoch beim Zittern gestört, so wird der Prozess blockiert.
Sie kann den Schrecken dann nicht mehr abschütteln und leidet danach unter dauerhafter Angst, Anspannung und Unruhe. Ihre Fähigkeit zum Aufbau und Erhalt sozialer Bindungen ist geschädigt.
Kurz: Sie hat ein Trauma erlitten.
Ständig auf der Hut, häufig in Gefahr – und doch frei von Trauma, sofern sie nach erfolgreicher Flucht zittern darf.
Was heißt das für die Entstehung von Traumata beim Menschen?
Ein frischer Blick auf Trauma
Wenn vitale Impulse blockiert werden
Bleibt die mobilisierte Überlebensenergie in unserem Nervensystem »stecken«, so erzeugt auch unser Körper dauerhafte Alarmbereitschaft. Er ist dann ständig bereit, zu fliehen oder zu kämpfen.
In der zivilisierten Welt fällt schnell auf: Diese so wichtige Entladung darf häufig nicht stattfinden. Unser Zittern wird gestört oder nicht erlaubt und deshalb unterdrückt. Aus Scham und Angst vor sozialer Zurückweisung verhindern wir, unkontrolliert von den Impulsen unseres Körpers erfasst zu werden.
Wir finden nach traumatischen Erlebnissen nicht genug Ruhe, Schutz oder Zeit, der Selbstregulierung unseres Nervensystems Raum zu geben. Wir erlauben unserem Körper nicht, in diesen kritischen Momenten die Führung zu übernehmen.
Das Trauma sitzt im Körper
Die Grundannahme von Somatic Experiencing ist, dass Traumata grundsätzlich verkörpert sind. Im Körper und Nervensystem entstehen sie – und dort können sie auch wieder gelöst werden.
Dabei muss sich manchmal nur unser Körper an das Trauma erinnern, ohne dass unser Geist überhaupt etwas davon mitbekommt.
Traumata werden als normale Reaktionen auf außergewöhnliche Situationen verstanden, nicht als Krankheit oder Störung. Was unser Körper tut, hat immer Sinn und Zweck. Unser System hatte viel Zeit, um effektive Mechanismen im Umgang mit den Gefahren aus unserer Umwelt auszubilden.
Verdrängung hat sich scheinbar als äußerst nützlich erwiesen. Akute Traumata zu verdrängen und nach einer kritischen Erfahrung schnell wieder auf die Umwelt reagieren zu können, hat unsere Überlebenschancen im Laufe der Evolution erhöht.
Jeder Spieler braucht seinen Gegenspieler
Wir bezahlen für die Fähigkeit, schnell wieder reaktionsfähig zu werden, mit einem Verlust unserer verfügbaren Lebenskraft.
Ein Trauma ist eine Erfahrung, die die Bewältigungskapazität einer Person übersteigt und die biologische Selbstregulation nicht wieder in Gang kommen lässt.
– Dr. Peter Levine
So wie wir einen linken und einen rechten Arm haben, so arbeitet auch unser Nervensystem mit Gegenspielern. Es ist unterteilt in Aktivierungssystem und Entspannungssystem, sympathisches und parasympathisches Nervensystem.
In kritischen Situationen mobilisiert der Sympathikus unsere Energie für Kampf oder Flucht, schüttet Adrenalin und Cortisol aus und versetzt unseren Körper in die Bereitschaft, jetzt sofort für unser Überleben aktiv zu werden.
Der Parasympathikus hingegen führt uns nach überstandener Gefahr in die Entspannung der Muskeln und des Geistes. Er hilft uns dabei, traumatische Momente loszulassen und entscheidende Lernerfahrungen sanft zu integrieren.
Was passiert, wenn die bereitgestellte Energie nicht kanalisiert wird und unser Entspannungssystem seine Arbeit nicht tun darf?
Gefangene Energie
Wird die vom Sympathikus mobilisierte Energie nicht für Kampf oder Flucht benutzt, findet sie keinen Weg aus dem Nervensystem und friert zusammen mit unserem Körper in einer Erstarrungsreaktion fest.
In uns gefangen zirkuliert sie schliesslich im Nervensystem.
Dadurch hält sie unser System in einer ständigen Kampf- oder Fluchtbereitschaft. Die entstehende Dauerspannung beeinträchtigt die Arbeit des Parasympathikus und damit auch die natürliche Flexibilität des Nervensystems, zwischen Anspannung und Entspannung wechseln zu können.
Ein Trauma ist im Nervensystem gebunden. Durch einschneidende Erlebnisse hat dieses seine volle Flexibilität verloren. Wir müssen ihm deshalb helfen, wieder zu seiner ganzen Spannbreite und Kraft zurückzufinden.
– Dr. Peter Levine
Was heißt das für unser Leben und Erleben nach einem Trauma ohne Entladung?
Die Folgen dauerhafter Überspannung
Aus dieser Dauerspannung ergibt sich eine Einschränkung der Körperfunktionen, die nur bei intakter Entspannungsfähigkeit vollständig verfügbar sind.
Wenn selbst eine Maschine Pausen braucht, um nicht zu schnell zu verschleißen – wie steht es um Sie?
Wenn wir die ganze Zeit heiß laufen, kommen wir natürlich nicht zum abkühlen. Dann werden unter anderem beeinträchtigt:
Schlaf & Erholung (Stressabbau)
Stoffwechsel & Verdauung
Hormonhaushalt
Muskeltonus & -regeneration
Diese physischen Symptome bleiben natürlich nicht ohne Effekt auf die Psyche. In der Folge leiden psychische und soziale Fertigkeiten:
Aufbau sozialer Bindungen
Präsenz & Innere Ruhe
Fähigkeit zu Konzentration & Fokus
Natürliche Resilienz & Selbstregulierung
Wie können wir unserer gefangenen Lebensenergie die Tür wieder öffnen?
Somatic Experiencing: Die Methode
Die Arbeit mit dem Körper
Zunächst richten wir den Fokus auf die starken, sicheren und lebenserprobten Anteile in Ihnen – Ihren inneren Ressourcen.
Sie ziehen Ihre Aufmerksamkeit bewusst von den zerbrechlichen und verletzten Anteilen ab und nutzen die freigewordene Aufmerksamkeit für einen entschiedenen Fokus auf die starken und resilienten Anteile in Ihnen. Sie lernen wieder zu erspüren, wie sich körperlich empfundene Sicherheit anfühlt und stärken diese Wahrnehmung.
Dazu arbeiten wir mit Achtsamkeits-Übungen, um das Gewahrsein im Hier und Jetzt zu verankern und das wachsende Gefühl von innerer Stabilität zu festigen. Nach und nach bauen wir ein Fundament auf, von dem aus Sie sich Ihren Trauma-Inhalten vorsichtig stellen können.
Entscheidend hierbei ist, dass Sie zu jeder Zeit eine körperliche Sicherheit empfinden und nicht erneut vom Trauma überwältigt zu werden können.
Mit kleinen Schritten in die Freiheit
Deshalb arbeiten wir mit dem Prinzip der Titration.
In der chemischen Analyse bezeichnet Titration ein tröpfchenweises Vorgehen. In der Psychotherapie ist der Begriff eine Metapher für die Arbeit in sehr kleinen Schritten geworden. Dabei geben wir dem Körper die Möglichkeit, vergangene Erlebnisse schonend zu integrieren.
Die Titration kann als Gegenentwurf zur Katharsis verstanden werden, bei der sehr grosse Energiemengen aktiviert und bearbeitet werden.
Durch das Gehen in kleinen Schritten ergibt sich die Gelegenheit, immer wieder innezuhalten und zu erspüren, ob Sie hier und jetzt weiter gehen möchten. So lässt sich eine erneute Überwältigung durch Trauma-Inhalte wirksam vermeiden.
Der Verstand darf ruhen
Das Besondere an der Arbeit mit Somatic Experiencing ist, dass Sie sich nicht an Ihr Trauma erinnern müssen – Sie müssen nicht davon berichten können.
Die Arbeit mit dem Körper kann ihre heilsamen Effekte entfalten, ohne Sie vorher mit schmerzhaften Bildern konfrontiert zu haben. Ihr Trauma darf aus guten Gründen von Ihnen vergessen worden sein: Ihr Körper wird sich erinnern.
Sie dürfen hier bereits beginnen, loszulassen und zu vertrauen. Sie können darin die Intelligenz Ihres Körpers und seine ausgeprägte Fähigkeit zur Selbstheilung erkennen. Sie können ein erstes Gefühl dafür bekommen, welch' fähigen und vielseitigen Verbündeten Sie dauerhaft an Ihrer Seite haben.
Was kann passieren, wenn Sie es wagen, das Erleben des gegenwärtigen Moments einmal an Ihren Körper abzugeben?
Somatic Experiencing: Die Ziele
Die Psyche ausdellen
Durch therapeutische Titration wird die zirkulierende Überlebensenergie in kleinen Schritten freigesetzt – und steht Ihnen dadurch wieder zur Verfügung.
Traumatische Schocks können von Ihrem Körper endlich verarbeitet und gelöst werden. Vielleicht entspannen sich Muskeln, die seit Jahrzehnten unter Dauerspannung stehen und glauben, eine verdrängte Lerneinheit für Sie festhalten zu müssen. Nach und nach kehrt Ihr Gefühl für Ihre angeborene Stärke, Entwicklungsfähigkeit und Resilienz zurück.
Im Prozess können Sie erleben, wie Sie seit einer schmerzhaften Erfahrung gereift und dem Trauma jetzt gewachsen sind. Nun können Sie diese mit offenen Augen und aufrechter Haltung neu definieren.
Ich bin überzeugt davon, dass Trauma heilbar ist und dass der Heilungsprozess ein Katalysator für tief greifendes Erwachen sein kann – ein Türöffner für emotionale und echte spirituelle Transformation.
– Dr. Peter Levine
Ihr Nervensystem findet seine so wichtige Fähigkeit zur Entspannung wieder und integriert die Erfahrung als wertvolle und nutzbare Lerneinheit. Dadurch wird der Raum möglicher Handlungen und Lösungsstrategien größer.
Das Ziel ist es, Ihren Weg vom »Ich kann nicht« zum »Ich kann« zu finden.
Eine uralte Kraft schenkt Erdung
Wir suchen gemeinsam nach Zentrierung, Erdung und innerer Balance.
Sie können eine Basis erhalten, mit der Sie ab sofort arbeiten können: Ein neues Gespür für Ihren Körper. Sie gewinnen die uralte Intelligenz ihres Körpers als echten Verbündeten zurück.
Wie kann sich ihr Erleben verändern?
Ist der Verstand nicht mehr so laut, werden wir plötzlich fähig, Stille wahrzunehmen. Dadurch nehmen wir eine tiefere und leicht übersehene Ebene des Seins wahr: Jeder Ton erwächst aus der Stille und geht wieder in sie über.
Klingt leicht und ist doch gar nicht so einfach: Sind Sie fähig, Stille wahrzunehmen?
Es ist nicht unser denkender Geist, der die Stille wahrnimmt – doch welcher Teil ist es dann?
Nach diesem Teil in uns zu lauschen führt automatisch in die Präsenz im gegenwärtigen Moment – in dem es übrigens niemals so viele Probleme gibt, wie ein verschreckter Geist uns erzählen möchte.
Weniger abgelenkt von fiktiven Szenarien werde Sie nach und nach fähig, Ihr Potential als Mensch zu realisieren.
Denke nicht nur mit deinem Kopf, denke mit deinem ganzen Körper.
– Eckart Tolle
Nun ist noch eine Frage ungeklärt: In welchem Moment wurde aus der Erkenntnis von Gazelle und Löwe eine Therapie, die uns zurück in unsere Kraft führen kann?
Und wo ist der Tiger?
Der Weg von der Theorie zur Therapie
Der Tiger
Nancy lebte in Amerika und war in ihrem Leben noch keinem Tiger davongelaufen.
Das änderte sich 1969 in einer Sitzung mit Dr. Peter Levine. Levine erforschte gerade die Trauma-Entstehung in Tieren – oder eher das Fehlen dieser.
Nancy suchte Behandlung wegen häufiger, intensiver Panikattacken. Entspannungsmethoden brachten jedoch keinen Fortschritt und verschlimmerten Ihren Zustand sogar noch. In einer historischen Behandlungsstunde veränderte Levine spontan seine Taktik.
In dreissig Minuten in die Freiheit
Dem plötzlich auftauchenden Bild eines lauernden Tigers folgend forderte er Nancy auf, vor ihm zu fliehen. Ihr Körper nahm den Impuls sofort auf. Ihre Beine fingen an zu zittern. Dann folgte sie seiner Aufforderung und begann, liegend, auf der Stelle zu laufen.
Dreissig Minuten lief sie. Ihre Hände wurden kalt, dann wurde ihr Körper heiss. Sie schwitze. Ihre Hautfarbe wechselte von blass zu lebendig und wieder zurück. Schliesslich wurde sie am ganzen Körper von einem heftigen Zucken und Schütteln erfasst.
Sie nahm spontane Atemzüge – als würde sie geatmet werden.
– Dr. Peter Levine, über die Sitzung mit Nancy
Als sie wieder sprechen konnte, erzählte Nancy von einer Situation aus ihrer Kindheit, an die sie sich nach erfolgreicher Flucht vor dem Tiger erinnert hatte. Sie wurde damals, mit vier Jahren, für eine Mandeloperation mit Äther betäubt. Sie erinnerte sich an eine panische Angst zu ersticken.
Nancy verdrängte dieses umnebelte Erlebnis – und verlor ihre natürliche Lebendigkeit. Später entwickelte sie schwere Angst- und Paniksymptome, Verdauungsprobleme, Migräne, und war chronisch erschöpft mit körperlichen Schmerzen.
Sie ging kaum mehr aus dem Haus und konnte nur schwer den Kontakt mit anderen Menschen halten.
Die Kraft unserer Instinkte
Durch die instinktiven Laufbewegungen konnte sich Nancys Nervensystem von der überschüssigen Energie befreien, die seit ihrem vierten Lebensjahr in ihrem Nervensystem zirkulierte.
Durch die einsetzende Betäubung konnte die damals mobilisierte Energie nie genutzt werden, um sie vor der wahrgenommenen Lebensgefahr zu schützen.
Nach der Sitzung wurden ihre Symptome deutlich schwächer, viele verschwanden völlig. Sie hatte nie wieder eine Panikattacke. Eine einzelne Sitzung veränderte ihr Leben – bei einer Nachuntersuchung fünf Jahre später waren keine der ursprünglichen Symptome mehr vorhanden.
Erfolg mit Symbolcharakter
Die Sitzung war ein Durchbruch für Nancy – und für Dr. Levine.
Sie verlor Ihre Ängste und gewann Ihre Lebendigkeit zurück.
Er verlor die Zweifel an seiner Theorie und gewann neue Einblicke in die Entstehung und Auflösung von traumatischen Schocks.
Die Botschaft war klar: Auch wir haben die Fähigkeit, Traumata wirksam zu verarbeiten und für einst bereitgestellte Überlebensenergie auch nach Jahren noch einen Kanal zu schaffen, um sie aus dem System zu leiten und wieder fähig zur so wichtigen Entspannung zu werden.
Der Anblick eines lauernden Tigers weckt Instinkte, die sonst begraben liegen.
Der Tiger wurde zum Symbol für Somatic Experiencing. Er symbolisiert eine uralte Kraft und Lebendigkeit in uns, die durch ein Trauma gefangen genommen wurde und sich nun gegen uns richtet.
Diese animalische Urkraft können wir jederzeit wieder entfesseln und in den Dienst unseres Wachstums stellen.
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