Analytische Psychologie

Analytische Psychologie: Wie entdeckte dieser Mann, was Sie vor sich selbst verstecken?

Ist meine Psyche nur »meins« oder gibt's darin auch »unseres«? Will sich etwas durch uns hindurch verwirklichen? Und was haben nummerierte Persönlichkeiten damit zu tun? Die Analytische Psychologie geht tief – und beantwortet dabei so viele Fragen, wie sie neue aufwirft.

Ein Pionier der inneren Forschungsreise: Carl Gustav Jung.

Eine salzige Perle fiel auf den vorletzten Dachziegel, der seine private Festung am Zürichsee zieren sollte.

Der Tropfen zog einen kleinen Bogen über den rostfarbenen Ton, bevor er sich den Sonnenstrahlen des Sommers 1935 beugte und beinah spurlos in der Hitze verschwand. Er hinterließ nur einen blassen Schleier, ein vergängliches Andenken an diesen besonderen Moment. Bis zum nächsten Regen.

Und jetzt der letzte Ziegel. Er hakte kurz – dann saß er.

In zwölf Jahren und vier Phasen erbaut und nun endlich vollendet. Ein steinernes Refugium, der Erforschung der menschliche Psyche in ihrer ganzen Tiefe gewidmet. Ungestört.

Ein stiller Ort – erbaut, um zu lauschen.
Wer nach aussen schaut, träumt. Wer nach innen schaut, erwacht.
– Carl Gustav Jung

Schmelztiegel der Weltbilder

Der Mann auf dem Dach ist Carl Gustav Jung. Einst war er ein Schüler Freuds – dann kam der Bruch.
Analytische Psychologie: Bollingen
Hier wurde die menschliche Psyche neu kartiert: Der »Bollingen Tower« am Zürichsee © Andrew Taylor
Durch eine entschlossene Einkehr in die steinernen Türme seines stillen Rückzugsortes, des historischen »Bollingen Tower«, hat er schließlich ein Lebenswerk geschaffen, das unser Bild von der menschlichen Psyche fundamental veränderte. Wie gelang ihm das?

Er löste philosophische Grenzen auf und verschmolz Weltbilder – er verband den Mystizismus des Ostens mit der Wissenschaft des Westens.

Er sah keinen Widerspruch zwischen der individuellen Psyche eines einzelnen Menschen und einer kollektiven Psyche voller uralter Symbole und Muster.

Und: Die damals übliche Selbstwahrnehmung des Menschen als eine Psyche war für ihn kein Anlass, die lebendige Existenz separater Teilpersönlichkeiten auszuschließen – oder Komplexe, wie er sie nannte.

Mehr Informationen zu Komplexen

Jungs Komplexe sollten aufgegriffen und unter dem Namen Ego States zu einer eigenständigen Therapieform reifen. Für mehr zur Arbeit mit diesen verkörperten Ich-Anteilen, lesen Sie den Artikel zu Ego States:
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Weltbild der Analytischen Psychologie

Das ewige Spiel um die Einheit

Beeinflusst von der Philosophie des Taoismus suchte Jung nach Verbindungen, die der westlichen Psychologie zuvor verschlossen geblieben waren.

Ein Zitat verdeutlicht seine Geisteshaltung zu seiner Suche, die von einem unerschütterlichen Glauben an sein wachsendes Weltbild und den visionären Charakter seiner inneren Regungen spricht – und zugleich von der Demut, damit auch falsch liegen zu können:
Aber nicht die Kritik des einzelnen Zeitgenossen, sondern die kommenden Zeiten werden über Wahrheit und Irrtum des Neuentdeckten entscheiden. Es gibt Dinge, die heute noch nicht wahr sind, vielleicht noch nicht wahr sein dürfen, aber vielleicht morgen.
– Carl Gustav Jung
Aus dem Prinzip des Taiji oder Tai Chi, geläufiger als Symbol des Yin & Yang, ergab sich für ihn ein Bild von Bewusstsein und Unterbewusstsein, das dem einer Wippe gleicht:
Ein Zu-viel auf der einen Seite erzeugt ein Zu-wenig auf der anderen.
Analytische Psychologie: Taiji
Erst mit der dunklen Hälfte wird aus dem Licht des Taiji ein Kreis – ein Symbol für die Ganzheit aller Dinge.
Psychische Balance ist das Ergebnis eines ausgeglichenen Verhältnisses beider Teile unserer Psyche, die sich komplementär und polar zueinander verhalten.

Was heisst das? Wir sind ganz, wie vom Taiji symbolisiert. Es kann kein Schatten geworfen werden, wenn keine Lichtquelle vorhanden ist. Echte Sanftmut ist immer gepaart mit der grundsätzlichen Fähigkeit zur Aggression. Echte Weisheit erwächst aus dem Mut, ein Narr zu sein.

Verstossenes Potential

Psychische Störungen sind nach dem Analytischen Modell ein Widerstand des Menschen gegen die eigene Ganzheit.

Im Laufe unserer kindlichen und jugendlichen Entwicklung wurden wir entmutigt, alle Teile unseres Charakters frei und ungefiltert zu leben. Lob und Tadel zeigten uns, welche Anteile unseres Wesens präsentierbar sind – und welche nicht.

Darin war nicht nur die respektable Reife erwachsener Menschen enthalten, sondern ebenso Ungeduld, Unachtsamkeit, ein verwundetes inneres Kind und unterdrückte Aggression, die sich am leichten Opfer entladen konnten.

Wir werden von unserem Umfeld häufig nur dann akzeptiert, wenn wir versöhnlich und unkompliziert sind – und wir werden psychisch verwundet, wenn wir es nicht sind. In einem solchen Umfeld darf der dunkle und aggressive Teil unserer Psyche, der zu jedem Kind und jedem Menschen gehört, nicht im Licht des Alltags leben.
Kindisch ist nicht nur, wer zu lange Kind bleibt, sondern auch wer sich von der Kindheit trennt und meint, dass das, was er nicht sieht, nicht mehr existiere.
– Carl Gustav Jung
Er zieht sich in die Dunkelheit unseres Unterbewusstseins zurück und wird zu dem, was Jung den Schatten nannte. Mit unseren angeblich so schlechten Eigenschaften verstoßen wir auch einen Teil unserer Kraft, verletzen unsere kindliche Ganzheit. Dann sind wir uns unseres aggressiven Potentials nicht mehr bewusst – leben es jedoch immer noch unbewusst aus.

Das Taiji zum Vorbild: Unser Unterbewusstsein erzeugt Ausgleich

Diese kompensatorische Funktion unserer Psyche kann sich nach innen richten – in Gestalt eines neurotischen Wesens oder selbst-sabotierenden Verhaltens.

Oder aber sie richtet sich nach außen. Dann versteckt sie sich jedoch besser als offen gezeigte Aggression in Groll, Hass und stiller Verachtung. Im Verhalten wird diese verdrängte dunkle Energie oft als passive Aggression und eine ablehnende Haltung sichtbar.

Ein derart unterdrückter Teil der Psyche sucht sich selbstständig einen Raum, um leben zu dürfen. Gewaltvolle Träume voller dunkler, aggressiver Elemente können ein Hinweis darauf sein, dass Sie einem Teil Ihrer eigenen Psyche nicht nah genug sind.
Analytische Psychologie: Schatten
»Nur was abgespalten ist, wird wirklich dunkel.« – Wagen Sie es, Ihren Schatten betrachten?
Ist die psychische Balance zu stark gefährdet und die Selbstregulation der Psyche nur noch in Form von psychotischen Zuständen möglich, wird dieser unterdrückte Teil in Form von Halluzinationen und Wahnvorstellungen sichtbar.

Unsere Aufgabe ist es, unsere verstossene Aggression wieder dahin zu holen, wo wir sie nutzen können – als bewussten Teil in unsere Gesamtpersönlichkeit integriert.

Der unerwartete Effekt: Wir erhalten nicht mehr Dunkelheit, sondern mehr Licht. Es ist fast schon paradox. Wir werden durch diesen Integrationsprozess leichter, unbeschwerter und spontaner.

Die Suche danach, jetzt ganz zu werden

All Ihre bisherigen Erfahrungen vereinigen sich in diesem gegenwärtigen, atmenden Moment Ihres Erlebens.

Doch zugleich wird eine Saat für Ihre Zukunft gesetzt. Sich im präsenten Moment anders zu entscheiden, anders zu handeln als Ihre verfestigten Muster von Ihnen verlangen, löst Sie augenblicklich aus einer Unterwerfung gegenüber Ihrer lebensgeschichtlichen Prägung.
Ich bin nicht das, was mir passiert ist – ich bin das, was ich entscheide zu werden.
– Carl Gustav Jung
Was Sie jetzt denken, fühlen und tun, ist beeinflusst von Ihrer bisherigen Lebensgeschichte, sicherlich – doch ist es ebenfalls eine immer wiederkehrende Gelegenheit, den eigenen Charakter neu zu formen. Tatsächlich ist der präsente Moment Ihr einziger Stimmzettel zu der Frage, wie Sie Ihre Zukunft erleben möchten.

Er ist eine nie versiegende Gelegenheit, die wichtigste aller Entscheidungen zu treffen: Welcher Mensch wollen Sie sein? Welchen Charakter formen Sie gerade?

Schon Heraklit war der Meinung: Charakter ist Schicksal.

Das Unterbewusstsein: Der Schlüssel zur Entwicklung des Menschen

Vor fast 120 Jahren formulierte Carl Gustav Jung in seiner Dissertation die These, dass die wirkliche Arbeit der Charakter- und Persönlichkeitsentwicklung auf der unbewussten Ebene erfolgt.

Ihr Unterbewusstsein wird damit der Schlüssel zu dem Leben, das Sie sich wünschen und das Ihrem Potential als Mensch entspricht. Gleichzeitig ist es die Kraft, die Sie an Ihre Vergangenheit fesselt, wenn sie unbewusst bleibt.

Das Bewusst-machen unbewusster Anteile sah Jung als den Schlüssel dazu, das volle seelische Potential des Menschen zu entfalten.
Solang du dein Unbewusstes nicht bewusst gemacht hast, wird es dein Leben lenken und du wirst es Schicksal nennen.
– Carl Gustav Jung
Es ist Ihr Unterbewusstsein, das so oft im entscheidenden Moment Ihre Hand führt, Ihren Fuss setzt und Ihre Zunge lenkt. Erst ein harmonisches Verhältnis zum eigenen Unterbewusstsein ermöglicht ein stimmiges Auftreten des Menschen in seiner Ganzheit.

Das kollektive Unbewusste: Der Boden, auf dem wir wandeln

Neben dem individuellen Unterbewusstsein nahm Jung ein kollektives Unbewusstes an.

Er nahm es als einen alles tragenden Boden wahr, in dem die Psyche eines jeden Menschen eingebettet ist. Als ein reiches psychologisches Fundament voller alter Symbole, Bilder und Muster, die bereits in der geistigen Welt unserer Ahnen vorhanden waren.

Diese Symbole begleiten uns seit Jahrtausenden und werden von uns als Archetypen leicht wiedererkannt, wo immer sie sich in unserer Welt zeigen. Sie wirken seltsam vertraut und verfügen über einen natürlichen Magnetismus, der beständig auf unsere Kultur und kollektive Entwicklung wirkt.
Analytische Psychologie: Archetypen
Uralte Bilder mit zeitlosem Effekt: Was unserer kollektiven Psyche entspringt, wirkt seltsam vertraut.
Erfahrbar werden diese Symbole in Träumen, Trancen und Visionen – und in Kunst, die uns mit unerklärlicher Kraft ergreift und bewegt. Sie treten in unsere Welt durch vertraute und uralte Rollen wie Mutter und Vater, Schüler und Meister, Weiser und Narr.

Doch wie übersetzt sich ein solches Weltbild in eine psychologische Analyse?

Prinzipien der Analytischen Psychologie

Menschliche Begegnung statt klinischer Untersuchung

Das von Jung entwickelte analytische Modell sieht Arzt und Patient nicht als solche, sondern als eine lebendige Begegnung zweier entwicklungsfähiger Menschen.

Diese Haltung basiert auf dem Modell der Intersubjektivität. Es existiert keine objektive Wahrnehmung, immer nur einen Austausch zwischen zwei subjektiven Wahrnehmungen.

Die Begegnung findet deshalb auf Augenhöhe statt, einander sehend – körperlich wie seelisch. Das alte Bild vom distanzierten Psychoanalytiker am Kopfende einer Liege wird damit entschlossen verabschiedet.

Die therapeutische Haltung ist ein engagiertes, akzeptierendes und wertfreies Interesse am Menschen. Das Modell der Archetypen gibt Anlass zu der Annahme, dass sich in jedem Menschen andere primäre Muster verwirklichen. Jeder spielt eine andere Rolle.

Niemand muss sein, wie jemand anderes von ihm erwartet.

Eine therapeutische Sitzung nach dem Analytischen Modell kann dabei sowohl gesprächsorientiert als auch darstellend-kreativ sein. In der Analyse und Behandlung von Kindern wird das Spiel zum Schlüssel der Begegnung.

Was können Sie von Ihrem Therapeuten erwarten?

Wenn Sie offen für eine Psychotherapie sind, sollten Sie in jedem Fall in den ersten Sitzungen prüfen: Haben Sie gutes Gefühl im Kontakt zu Ihrem Therapeuten? Können Sie ihr oder ihm vertrauen?

Eine gesunde therapeutische Beziehung ist entscheidend für Sie, Ihre psychische Gesundheit und eine erfolgreiche Therapie. Wir alle sind Menschen. Auch Therapeuten sind nicht perfekt und auch umfassendes psychologisches Wissen schützt nicht vor unbewussten Regungen und gut versteckten Komplexen.

Es liegt in Ihrer eigenen Verantwortung, Ihren Therapeuten oder Ihre Therapeutin auf folgende Eigenschaften zu prüfen:
1. Reflektiert sich selbstEr muss für die erfolgreiche Anwendung der analytischen Methode fähig zur Selbstbeobachtung und Reflexion im gegenwärtigen Moment sein. Er muss wahrnehmen können, wie er den Verlauf der Therapie und die psychologische Entwicklung des Klienten beeinflusst. Er muss sich eigener Wunden und Komplexe gewahr sein, um sie nicht unbewusst in die Therapie zu tragen und deren Qualität zu verzerren.
2. Nimmt sorgfältig wahr und interpretiert nur vorsichtig
Statt schnelle Schlüsse zu ziehen, sollte sich Ihr Therapeut der Möglichkeit des Erzeugens von sogenannten Artefakten bewusst sein. Artefakte sind »künstlich« erschaffene psychologische Phänomene bei Ihnen als Klient. Diese sind jedoch nicht Ihr Problem! Diese Artefakte werden erst im therapeutischen Prozess erzeugt und bergen die Gefahr, als primäre Symptome fehlinterpretiert zu werden.

Abstinenz – Es geht ganz um Sie

Diese Fähigkeiten des Therapeuten sind eine Dimension der Abstinenz.

Eine andere Dimension ist, dass Ihre Wünsche nach Erwiderung der persönlichen Offenheit zur eigenen Lebensgeschichte mit Vorsicht behandelt werden. Ihr Wunsch darf bestehen – doch statt ihm zu entsprechen, wird er Ihnen gespiegelt.

Der Grund dafür ist, dass es zu einer Verzerrung Ihrer primären Psycho-Symptomatik kommen kann, die die therapeutische Professionalität gefährdet und der Wirksamkeit Ihrer Psychotherapie schadet.

Möglicherweise suchen sie danach, unangenehme Empfindungen während der Therapie dadurch zu lindern, Nähe zu suchen. Das kann ein Versuch sein, Themen zu meiden, die jetzt endlich betrachtet werden wollen.

Die empfundene Unausgeglichenheit kann negative Emotionen bei Ihnen wecken. Ihr Therapeut ist dennoch dafür verantwortlich, Ihrem Wunsch sanft nicht zu entsprechen.

Vertrauen Sie an dieser Stelle: Es geht hierbei um eine erfolgreiche Therapie für Sie – nicht darum, dass Ihr Therapeut seine eigene Verschlossenheit liebt. Es geht nicht um kühle Zurückweisung. Das Anliegen der ärztlichen Abstinenz ist, den Schutz des therapeutischen Raumes im richtigen, fühlenden Mass durchzusetzen.

Menschliche Wärme bleibt dabei Teil des therapeutischen Prozesses.

Ziele der Analytischen Psychologie

Der Weg zur inneren Führung

In der Zielsetzung der Analytischen Psychologie sind zunächst klassische Elemente zu finden, die die Analytischen Methode mit anderen Therapiemethoden vereint: Es geht um das Lösen intrapsychischer Spannungen und die Bewältigung psychischer Störungen.

Die Therapie soll Sie zur Selbstbehandlung und der Aufbau von Selbstkompetenz befähigen.

Die Analytische Psychologie sucht Entwicklungschancen dort, wo sie üblicherweise nur selten vermutet werden: In den eigenen Komplexen und auf der Seite von »Patient« und »Krankheit« – nicht bei »Arzt« und »Gesundheit«.
Das Krankhafte kann nicht einfach wie ein Fremdkörper beseitigt werden, ohne dass man Gefahr läuft, zugleich etwas Wesentliches, das auch leben sollte, zu zerstören.

Unsere Aufgabe besteht nicht darin, es zu vernichten, sondern wir sollten vielmehr das, was wachsen will, hegen und pflegen, bis es schließlich seine Rolle in der Ganzheit der Seele spielen kann.
– Carl Gustav Jung, Gesammelte Werke 16 ' 293
Zentral für die Analytische Methode ist dabei das Therapieziel der Individuation.

Die Individuation: Der Weg des Menschen zum Unikat

Das Analytische Modell strebt danach, die konditionierte Psyche auf dem Weg aus der Selbstunterdrückung zu begleiten und ihr dabei zu helfen, zu ihrer natürlichen Vielseitigkeit und Lebendigkeit zurück zu finden.

Diese fundamentale Erweiterung der persönlichen Identität und die Wiedergewinnung früher psychischer Anteile in der zweiten Lebenshälfte nannte Jung Individuation. Die Individuation seines Wesens war nicht nur das höchste persönliche Ziel, das sich Jung selbst setzte – er sah es als universelles Ziel jeder lebendigen Seele.
Alle Beweise, die wir haben, deuten darauf hin, dass es vernünftig anzunehmen ist, dass in praktisch allen Menschen und fast allen Neugeborenen ein aktiver Wille, ein Antrieb für Gesundheit, Wachstum und Erfüllung vorhanden ist.
– Abraham Maslow
Die Individuation des Menschen ist die Entwicklung des eigenen Charakters zum Unikat und eine Integration aller verstoßenen Wesensanteile. Es ist tiefe Selbstverwirklichung durch die Entfaltung aller Fähigkeiten, Anlagen und Möglichkeiten, die als schlummerndes Potential schon jetzt in Ihnen lebendig sind.

Die Kräfte hinter der Individuation

Egoistischer Impuls oder der Mut zur Hingabe?

Jung war dabei überzeugt davon, dass die Individuation weniger mit Wollen und Durchsetzen zu tun habe, sondern vielmehr mit Loslassen. Eine Hingabe an natürliche innere Regungen des Unbewussten, die durch uns in die Welt dringen wollen.
Er erlebte das Unbewusste als eine lebendige, numinose Präsenz, den ständigen Begleiter jeder unserer wachen (und schlafenden) Augenblicke.

Wie können wir das Unbewusste befähigen, sich zu verwirklichen? Indem wir ihm freie Ausdrucksmöglichkeiten einräumen und dann untersuchen, was es zum Ausdruck gebracht hat. Selbstverwirklichung erwartet von der Psyche, dass sie sich mit sich selbst konfrontiert und sich dem zuwendet, was sie erzeugt.
– Anthony Stevens in »Jung« (Meisterdenker-Reihe)
Wir geben unserem Unterbewusstsein also das Signal, wachsen zu wollen – und lassen uns dann davon überraschen, was unsere uralte Körperintelligenz erzeugt. Die Individuation ist dabei kein egoistischer Prozess, sondern ermöglicht Ihren einzigartigen Beitrag an die Welt und die Gemeinschaft.

Es ist das Wachsen vom leicht beeinflussbaren und verletzlichen kindlichen Geist hin zum gereiften Menschen. Dieser Mensch hat seine Wunden akzeptiert und dadurch geheilt, hat vergeben und Demut [entwickelt] – und hat schließlich den Mut dazu entwickelt, sein Leben in einen höheren Dienst zu stellen.
Analytische Psychologie: Freiheit
Sie wollen fliegen? Dann müssen Sie zuerst schlüpfen.
Wir müssen uns unsere Leichtigkeit und Freiheit verdienen. Dabei sind die Gesetze der äußeren Welt vielleicht näher an inneren Gesetzen, als wir glauben. Vielleicht gilt auch in unserer Psyche: Wer den Schattenwurf betrachtet, kann daraus die Lichtquelle ableiten.

Betrachten Sie es doch einmal so: Wenn Sie nach Abschluss Ihrer Kindheit und Jugend vollkommen heil und »individuiert« wären, hätten Sie dann überhaupt einen interessanten Weg zu gehen?

Enantiodromie – Ein kompliziertes Wort für eine simple Idee

Mit mutiger Entschlossenheit, unsere Sozialisierung und Konditionierung zu durchbrechen, können wir einst scheinbar unüberwindliche Muster plötzlich in ihr Gegenteil verkehren.

Dazu fand Jung eine Entsprechung im Studium antiker griechischer Quellen – eine Perspektive, die diesen Vorgang als natürliche Bewegung jeder Existenz sieht.

Er stieß auf eine Idee von Heraklit: Jedes Ding habe eine innewohnende Tendenz, sich in sein Gegenteil zu verkehren. Heraklit nannte diesen Prozess Enantiodromie.

Alte Muster transzendieren

Kinder tendieren dazu, die Schwächen ihrer Eltern auszugleichen. Jung hatte in seinem eigenen Vater Defizite wahrgenommen, die er zu überwinden entschlossen war.

Frühe, vielleicht krankhafte Muster werden von uns erkannt und überwunden. Den frei gewordenen Platz kann das polare Gegenteil füllen, nach dessen Verwirklichung in unserem Leben und dessen Verfestigung in unserem Charakter wir über Jahrzehnte hinweg streben können.

Das menschliche Leben wird einfach nicht langweilig. Es gibt immer etwas zu tun. Und wenn wir feststecken, macht sich eine tiefe und uralte Kraft daran, die Barrieren zu durchbrechen und sich durch uns zu verwirklichen.
Mein Leben ist die Geschichte einer Selbstverwirklichung des Unbewussten.
– Carl Gustav Jung
Jungs Entdeckung der Enantiodromie prägte seine Betrachtung des menschlichen Lebensweges und bestätigte ihn in seiner Theorie der Individuation.

Sollten wir diese Dynamik als wahr erkennen, wirft sie eine Frage auf:

Wie freiwillig ist Wandel?

Möglicherweise herrscht in Ihnen nicht nur die Fähigkeit zum Wandel, sondern sogar ein innerer Zwang dazu?

Kurz stehen zu bleiben – das nennen wir Pause. Jedoch auf Dauer zu verharren lässt einrosten, müde werden und verhindert, dass wir unsere Neugier zum Leben befriedigen.
Analytische Psychologie: Ungewisses
Das Unbekannte kann ängstigen oder anziehen. Die Welt hinter der Kurve wartet. Wagen Sie den entscheidenden Schritt?
Werden wir unglücklich und krank, wenn wir uns diesem »seelischen Imperativ« nicht beugen?

Beginnen wir unser Leben auf »der einen Seite« und müssen diese Einseitigkeit durch den Prozess der Individuation nach den Gesetzen des Taiji ausgleichen – uns also auf »die andere Seite« bewegen?
Alle Reisen haben eine heimliche Bestimmung, die der Reisende nicht ahnt.
– Martin Buber
So bleibt die Frage übrig, wie wir auf die andere Seite gelangen.

Wie finden wir den Weg?
Können wir mit Führung rechnen?
Was zeigt uns, das wir in die richtige Richtung gehen?

Vielleicht beantworten sich diese Fragen durch eine letzte Geschichte aus Jungs persönlicher Lebenswelt:

Ein Drängen aus der Tiefe

Jung betonte immer wieder die Bedeutung des Numinosen. Nicht jeder unbewusste Anteil muss in Worte gefasst, nicht jede Regung der Seele zitierbar werden.

Er selbst entwickelte im Laufe seines Lebens eine immer tiefere Beziehung zu einem solchen nur schwer zitierbaren Teil in sich, den er No. 2 nannte.

No. 1 und No. 2

Der Name No. 2 symbolisierte eine Abgrenzung zu No. 1, den sozialisierten Teil seiner Persönlichkeit, der für Jung in seiner späteren Entwicklung zunehmend an Bedeutung verlor.

No. 1 war sein konditionierter Geist, der eine Maske zu tragen gelernt hatte, um von seinen Mitmenschen akzeptiert und geliebt zu werden.

Später, als er die Bedeutung dieses inneren Paares erkannte – und dass sie nicht nur in ihm, sondern in jedem Menschen lebendig sind – benannte er No. 1 in das Ich und No. 2 in das Selbst um. Die Individuation ist der Weg vom Ich zum Selbst.
No. 2 war ein geheimnisvoller Anteil seiner Psyche, der bedingungslos und kraftvoll nach Verwirklichung und dem Erschaffen eines Lebenswerkes strebte. Die Sprache gibt Hinweise: Selbst-Verwirklichung.

Er nahm diesen erblühenden Teil seiner Psyche als aufstrebende Lebenskraft wahr, die keine Entsprechung in Worten besaß und sich nicht um die Akzeptanz und Zustimmung der Gesellschaft sorgte – und sogar frei davon sein musste, um ihre Kraft zu entfalten.

No. 2 sollte Carl Gustav Jungs Leben und spätes Werk entscheidend prägen.

Denn grenzenlos und unendlich vielseitig erschien ihm No. 2 – es war »überhaupt kein Charakter sondern eine vita peracta, ein erfülltes Leben, geboren, lebend, gestorben, alles in einem, eine Totalschau der menschlichen Natur selber«.
Die wirklichen Geheimnisse kann man gar nicht verraten.
– Carl Gustav Jung

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