Er schlug mit einem leisen Klingen auf den filigranen Meissel, der das einzigartig gleichmäßige Gestein brach.
Ein kleiner Splitter traf seine Wange. Michelangelo atmete scharf ein. Seine sonst so stoische Ruhe wurde von innerer Rastlosigkeit gestört. Heute war wieder einer dieser Tage. Die alten Fragen liessen ihn nicht los:
Wie konnte der epochale Geist der Antike nur verloren gehen? Wie konnte die Schönheit und der unbeugsame Wille des ganzen Menschen, der Giganten bezwingen konnte, nur im Barbarismus der »mittleren Zeit« verschüttet werden?
Er nahm einen tiefen Atemzug und setzte sein Werk fort – erfüllt von der Vision, dem antiken Geist durch die Perfektion seines Werkes eine Wiedergeburt zu ermöglichen.
Die Wiedergeburt eines verschütteten Weltbildes
Die riesige Skulptur aus weissem Marmor ist eine wortwörtlich in Stein gemeisselte Überlieferung der zweiten grossen Welle humanistischen Denkens in der italienischen Renaissance.
Sie spricht von der Liebe des Menschen zur Welt – zu Natur wie auch zur Kultur. Zu sich selbst und zu allen anderen Geschöpfen. Es ist das sehnsüchtige Streben nach dem tiefen schöpferischen Potential des Menschen.
Die ersten dokumentierten Ursprünge des Humanismus finden sich in der Antike. Was in Athen mit Platon begann, wurde von Cicero in der römischen Humanitas zum ersten Mal durch zwei tragende Säulen definiert: Bildung und Charakterbildung.
Oder anders gesagt: Wissen und Wärme. Humanismus ist also das Streben danach, ein fähiger und fühlender Mensch zu werden.
Von der Philosophie zur Praxis
In der Renaissance erwachte der humanistische Geist also erneut und begleitet uns durch die Jahrhunderte. Er schlief nie wieder völlig ein – wie damals, im Barbarismus der »mittleren Zeit« zwischen Antike und Renaissance.
Zum Ende des 20. Jahrhunderts gewinnt humanistisches Denken wieder an Kraft – und findet seinen Weg in die Psychologie und Psychotherapie.
Die Gründung der Amerikanischen Vereinigung für Humanistische Psychologie (AHP) durch Abraham Maslow, Carl Rogers und Virginia Satir markiert den Eingang des Humanismus in das psychotherapeutische Denken und Handeln.
Der Mensch sollte nun endlich als ganzes Wesen mit einer komplexen Psyche gesehen werden – nicht als biologischer Unfall, der versehentlich in die Bewusstheit gestolpert ist.
Ein neues Bild von psychischer Gesundheit
Die Rückkehr der Lebendigkeit
Psychische Gesundheit wird von der WHO folgendermaßen definiert:
Psychische Gesundheit ist ein Zustand des Wohlbefindens, in dem eine Person ihre Fähigkeiten ausschöpfen, die normalen Lebensbelastungen bewältigen, produktiv arbeiten und einen Beitrag zu ihrer Gemeinschaft leisten kann.
Spüren Sie das Feuer? Die Tiefe? Die Vision?
Deshalb geht die humanistische Philosophie etwas tiefer. Sie sucht nach echter Lebendigkeit und der Fähigkeit, sich selbst und anderen Menschen mit Liebe und Respekt zu begegnen. Es ist die Suche nach der Freiheit, seine persönliche Vision von Menschlichkeit auszudrücken und zu leben.
Es geht um das Schürfen nach den entscheidenden Fragen unserer Existenz. Das Erreichen unserer inneren Quelle. Humanismus ist die Suche nach Verbundenheit – zu uns selbst, zu anderen Menschen und zu allem, was uns umgibt.
Was hat das Leben zu bieten, wenn ich voll da bin?
Und warum bin ich überhaupt da?
Was sind psychische Störungen?
Nach Auffassung der humanistischen Therapie sind psychische Störungen nichts anderes als Entfremdungen.
Als Kleinkind waren wir ganz. Die Welt war wunderlich, doch seltsam vertraut – dann erst wurde sie fremd. Seelische Verletzungen gaben uns einen Grund dazu, Teile unseres authentischen Wesens zu unterdrücken und unsere Energie aus der Welt zurückzuziehen.
Wir haben unsere Verbindung zum Selbstschutz gekappt und uns dadurch schließlich sogar von uns selbst entfremdet.
Wovon können wir uns im Prozess des Aufwachsens entfremden?
Unserem eigenen Körper und Empfindungen
Unseren Gefühlen und der darin enthaltenen Lebensenergie
Unseren Fähigkeiten und natürlichen Kompetenzen
Unseren Erfahrungen und Erinnerungen
Unserer Selbstwahrnehmung und unserem Selbstbild
Im Entfremdungsprozess geben wir natürlich nicht nur die intime Nähe zu uns selbst auf – sondern auch zu anderen Menschen. Selbstentfremdung führt immer auch zu einer größeren Distanz in sozialen Bindungen und Beziehungen. Und schließlich verlieren wir den Kontakt zu unserer Umwelt.
Gibt es etwas, das uns dabei helfen kann, diese Entfremdung wieder in Lebendigkeit zu verwandeln?
Die Prinzipien der Humanistischen Psychotherapie
Fünf Schlüssel zu Entfaltung Ihrer Seele
Um die erfahrene Entfremdung erkennen, verstehen und transformieren zu können, fusst die Humanistische Psychotherapie auf fünf wesentlichen Prinzipien:
Therapeutische Haltung
Präsenz
Ressourcenorientierung
Existenzialismus
Arbeit mit dem Unterbewusstsein
Diese bilden das Fundament, auf dem Sie sanft jeglicher Entfremdung und empfundener Zerbrechlichkeit Ihrer Erfahrung begegnen können. In diesen fünf Prinzipien ist die Saat einer neuen Erfahrung angelegt.
1. Therapeutische Haltung – Der Schlüssel zur Öffnung
Alle humanistischen Therapieansätze vereinigt eine offene, wertschätzende und mitfühlende Haltung.
Es ist die Begegnung zweier Menschen, kein kühles Aufeinandertreffen von Arzt und Patient. Dabei liegt der gemeinsame Fokus auf Gesundheit und Lebendigkeit, nicht Krankheit.
Für beiden Seiten ist die Begegnung neu, die gegenwärtige Szene frisch in den Drehbüchern unserer Leben. Das verlangt absolute Aufmerksamkeit und Verantwortung: Auf beiden Seiten braucht's den ganzen Menschen.
Wenn Dir jemand wirklich zuhört, ohne dich zu verurteilen, ohne dass er den Versuch macht, die Verantwortung für Dich zu übernehmen oder Dich nach seinen Mustern zu formen – dann fühlt sich das verdammt gut an.
Jedes Mal, wenn mir zugehört wird und ich verstanden werde, kann ich meine Welt mit neuen Augen sehen und weiterkommen. Es ist erstaunlich, wie scheinbar unlösbare Dinge doch zu bewältigen sind, wenn jemand zuhört.
– Carl Rogers, Mitbegründer der Amerikanischen Vereinigung für Humanistische Psychologie
Wie sollte ein solches Zuhören ohne absolute Präsenz funktionieren?
2. Präsenz – Der Schlüssel zum gegenwärtigen Moment
Genau genommen gibt es keine Vergangenheit. Und auch keine Zukunft. Nichts jemals Erlebtes wurde ausserhalb des gegenwärtigen Moments erlebt.
Alles findet immer in einem ewigen Jetzt statt – und Ihr individuelles Bewusstsein ist immer das Zentrum Ihres Erlebens.
Wenn Sie jetzt die Gelegenheit hätten, zu neuen Erfahrungen aufzubrechen – würden Sie sie nutzen?
Natürlich können Sie sich an vergangene Szenen Ihres Lebens erinnern und sich großartige Dinge für Ihre Zukunft vornehmen. Doch werden Ihre vergangenen Muster und zukünftigen Potentiale, weil sie auch jetzt gerade in Ihnen präsent sind, immer im gegenwärtigen Moment sichtbar. Dadurch können wir sie erleben und verstehen – und schliesslich verändern.
Die Tür zur Erfahrung lässt sich nur von innen öffnen.
– Carl Rogers
Die Humanistische Psychotherapie erhält dadurch einen experimentellen Charakter. Weil sie sich an der unmittelbaren Erfahrung im Hier und Jetzt orientiert, wird der Prozess nur schwer planbar und zu einem Spiel zwischen Therapeut und Klient, das auf kooperativer Kreativität basiert.
Das heisst: Was jetzt gerade ist, hat Platz und darf sein. Es hilft der Vertiefung Ihres Prozesses und dem Schürfen nach Ihren individuellen Ressourcen.
3. Ressourcenorientierung – Der Schlüssel zur inneren Quelle
Ressourcenorientierung bezeichnet den therapeutischen Fokus auf die starken, entwicklungsfähigen und sicheren Anteile jedes Menschen.
Ein verwundeter Mensch mit komplizierter Vergangenheit mag ein Selbstbild haben, das kaum Licht zulässt – und doch ist diese Selbstwahrnehmung nur eine Verzerrung seines Bewusstseins. Wir haben als Menschen unvermeidlich wertvolle, angeborene Ressourcen, die in der therapeutischen Arbeit das Fundament für die psychologische Entwicklung sind.
Neben Ihrem individuellen Charakter haben Sie universelle Qualitäten – wie die Fähigkeit sich selbst zu reflektieren und sich jederzeit frei dazu zu entscheiden, ihr Leben zum Positiven zu wandeln. Diese können Sie jederzeit rufen, um einen entscheidenden Schritt nach vorn zu machen.
Entweder machst du einen Schritt nach vorn ins Wachstum – oder einen Schritt zurück in die Sicherheit.
– Abraham Maslow, Mitbegründer der Amerikanischen Vereinigung für Humanistische Psychologie
Ein solcher Schritt fällt natürlich leichter, wenn wir eine zentrale Frage beantworten können: Warum wagen wir den Schritt überhaupt?
4. Existenzialismus - Der Schlüssel zur Tiefe Ihres Wesens
Im Kern des humanistischen Therapieansatzes geht es um die tiefen Fragen des Menschseins. Der Mensch ist unvermeidlich der Mittelpunkt des eigenen Erlebens.
Was steckt hinter dem lebendigen Schimmern wacher Augen?
Während Sie diese Zeilen lesen, machen Sie sich die selbstverständliche Funktionsfähigkeit Ihrer Augen, Ihres Bewusstseins und Ihres gesamten Körpers zunutze, der diesen Moment zu tragen weiss. Dieses bedingungslose Fundament wirft Fragen auf.
Wie sind Sie hierher gekommen?
Wo gehen Sie hin?
Was fangen Sie mit dieser einzigartigen Gelegenheit an?
Diese Fragen führen Sie zur Basis des humanistischen Therapieansatzes: Der Mensch als verkörpertes Wesen. Ohne Körper geht's nicht – versuchen Sie's doch mal! Diese Überlegung rückt die immense Bedeutung unseres »biologischen Raumschiffes« in den Vordergrund.
Also: Warum sind wir überhaupt hier – in einem Körper und bewusst, lachend und leidend? Die Suche nach Antworten auf diese Fragen hat einen belebenden Effekt. Wir werden langsam von einer Faszination erfüllt, dass überhaupt irgendetwas ist.
Wäre es für das Universum nicht viel einfacher und energiesparender, wenn einfach nichts wäre?
Wenn es nicht um kosmische Energie-Effizienz geht, worum geht es dann?
Daraus folgt eine weitere Frage: Was gibt es zu verlieren? Was wir erleben, ist doch bereits vollkommen unglaublich. Und doch ist da noch mehr.
Für dieses einzigartige verkörperte Erlebnis wurde uns auch noch ein Begleiter an die Seite gegeben, der uns auf unserem Weg unterstützt.
5. Arbeit mit dem Unterbewusstsein – Der Schlüssel zum Wachstum
Unser Unterbewusstsein ist ständig aktiv, auch wenn wir schlafen.
Es ist einerseits Ort verdrängter Erinnerungen und Gefühle, unser psychologischer Keller. Dort haben wir alle Wesenszüge und unerwünschten Verhaltensweisen weg gesperrt, die von unserer Umwelt nicht akzeptiert wurden. Auch schlummern hier die Erinnerungen, die schlicht zu schmerzhaft waren, um sie als bewusste Erinnerung zu behalten.
Als wir die Tür schlossen, um endlich sicher vor uns selbst zu sein, haben wir zwischen ungeliebten Wesenszügen und schmerzhaften Erinnerungen auch unser natürliches Selbstbewusstsein und unsere Lebensfreude zurückgelassen.
Zugleich ist das Unterbewusstsein der Ort unserer Selbstheilungskräfte. Sobald wir Kontakt zu ihm aufnehmen und uns dabei sicher und angenommen fühlen, kann uns dieser Teil unseres Bewusstseins wertvolle Hinweise geben, wohin es gehen soll.
Es ist paradox. Diese subtile Stimme, die langsam wieder lauter werden darf, kennt uns besser als wir selbst. Sie hat Informationen, die vielleicht lange Zeit verschüttet gewesen waren und uns doch besser durch die Welt navigieren können als unser so sorgfältig geschärfter bewusster Geist.
Fast unser ganzer Geist ist unbewusst. Wir müssen lernen, mit diesem mysteriösen Teil unseres Geistes zu kommunizieren. Dieser hat seine eigene Sprache – und Symbole helfen uns, ihn zu entschlüsseln.
– Elsa Punset
Nach dieser Idee trägt der Mensch alle Ressourcen zur Befreiung aus psychischem Leid bereits in sich. Jedoch wird unsere psychische Freiheit dort gefangen gehalten, wo wir sie nicht vermuten: In unseren Fehlern, Komplexen und Unvollkommenheiten.
Natürlich sind diese Prinzipien nicht nur im therapeutischen Setting anwendbar. Jeder Mensch kann uns das Geschenk machen, uns wirklich zuzuhören. Wir können jederzeit in die bewusste Präsenz gehen, uns an unsere Stärken erinnern, unser Dasein wirklich spüren oder unser Unterbewusstsein sprechen lassen.
Und doch dienen sie den Zielen der Humanistischen Psychotherapie, Sie bei der Wiederentdeckung Ihrer Lebendigkeit zu begleiten.
Die Ziele der Humanistischen Psychotherapie
Der Pfad zurück zum ganzen Menschen
Das zentrale Ziel der Humanistischen Psychotherapie ist es, Sie auf Ihrem Weg zu einem ganzen Menschen zu begleiten. Dieser Weg startet mit einer bedingungslosen Akzeptanz Ihrer gegenwärtigen Situation und psychischen Entwicklung.
Das seltsame Paradoxon ist, dass, wenn ich mich so akzeptiere wie ich bin, ich die Möglichkeit erlange, mich zu verändern.
– Carl Rogers
Durch erfolgreiche Arbeit mit Wunden und Entfremdungen gewinnen Sie die Fähigkeit zur Präsenz zurück – und zugleich eine gewisse Immunität gegen die psychische Unruhe, die durch vergangene Verletzungen und Traumata entstanden ist. Dadurch können Sie erfahrenes psychisches Leid und lebensgeschichtliche Prägungen in ein Fundament für charakterliche Reife verwandeln.
Mehr Informationen zur psychischer Unruhe und Traumata
Traumata erzeugen ein Dauerspannung im Nervensystem. Bis die Spannung gelöst wird, zirkuliert mobilisierte Überlebensenergie in unserem System, hält uns im Kampf- und Fluchtmodus und verhindert heilsame Entspannung. Um mehr darüber zu erfahren, lesen Sie den Artikel zu Somatic Experiencing:
Sie erhalten die Gelegenheit, Ihre psychologischen Ressourcen zu identifizieren und zu entwickeln – Ihre Stärken und einzigartigen positiven Wesenszüge, die es Ihnen möglich machen, dunkle und schwere Anteile Ihrer Persönlichkeit besser betrachten zu können.
Durch erlebnisaktivierende Methoden werden emotionale Tiefenerfahrungen möglich, die Ihre Selbst- und Weltwahrnehmung fundamental verändern können. Dadurch können Sie sich Ihrer Muster bewusst werden – Sie entwickeln Selbst-Bewusstsein.
Einst Verstossenes kehrt zurück
Durch eine Identifikation und Integration verstossener Anteile werden Sie wieder vollständiger, rücken näher an das humanistische Ideal des ganzen Menschen – und werden damit fähig, andere Handlungs- und Lösungsmöglichkeiten aufzurufen.
Wenn Sie vorhaben, weniger zu sein, als Sie können, werden Sie wahrscheinlich jeden Tag Ihres Lebens unglücklich sein.
– Abraham Maslow
Ihre psychologische Freiheit und persönliche Wahlfreiheit kann wachsen. Körperliche Blockaden und Hemmungen können gelöst werden und Ihre Psyche kann zu ihrer ursprünglichen Harmonie zurückfinden.
Die Integration verstossener Anteile führt dazu, dass es Ihnen leichter fallen wird, Ihre Grenzen zu ziehen und zu schützen. Durch eine besser integrierte Aggression können Sie vielleicht eine stärkere Identität aufzubauen und souveräner mit sich selbst und der Welt umgehen.
Sie werden fähig zu stärkerer Resilienz und Selbstregulation und gewinnen im gegenwärtigen Moment an Erdung, Klarheit und Zentriertheit. Sie legen damit die lebendige Saat für ein authentisches, von Sinn getragenes und selbstverwirklichtes Leben.
Warum Humanistische Psychotherapie?
Erst die die Menschlichkeit, dann ergibt sich der Rest
Aus der Fantasie vom »Homo oeconomicus«, dem objektiv und wirtschaftlich denkenden Menschen, wurde im Laufe des letzten Jahrhunderts nach und nach »Homo homini lupus« – Der Mensch ist des Menschen Wolf.
Eine unverwundete Psyche kann zwar auch mal mit »rauen Wassern« umgehen, kann diese jedoch kaum als Dauerzustand ertragen, ohne Erschöpfungssymptome zu zeigen und verwundet zu werden.
So ist das Menschenbild der der Humanistischen Psychotherapie ein Gegenentwurf zum »Homo oeconomicus« als der Illusion von einem Menschen, der ausschließlich von rationalen Impulsen gelenkt sei.
Und doch nimmt die humanistische Betrachtung ebenfalls Abstand zur animalischen Triebsteuerung des Menschen auf rein hormoneller und neurochemischer Basis, sondern sieht den Menschen als würdevolles Wesen freien Willens.
Wenn er darf und Wärme erfährt, ist der Mensch ein offenes, sinnsuchendes und liebendes Wesen. Wir werden erst unter widrigen Umständen hart, kalt und ausbeuterisch.
Nestwärme
Verschiedene Studien haben bereits die fundamentale Wichtigkeit der Nestwärme herausgestellt. Ein Kind kann genährt und versorgt werden, doch wenn die Liebe der Mutter fehlt und vergeblich nach ihrer Wärme gesucht wird, nimmt die psychologische Entwicklung des Kindes Schaden.
Zu Beginn unseres Lebens brauchen wir alle Schutz und Wärme.
Diese Abhängigkeit von der warmen, nährenden Mütterlichkeit ebenso wie das soziale Wesen des Menschen werden im humanistischen Weltbild bedingungslos akzeptiert.
Wer es nicht mit Liebe schafft, schafft es auch mit Strenge nicht.
– Anton P. Tschechow
Ja, wir brauchen Wärme. Ja, wir brauchen andere Menschen. Das ist keine Schwäche, die wir überwinden und verdrängen sollten. Es ist eine evolutionäre Tatsache, die unser Potential als Mensch vertieft und das Überleben unserer Vorfahren sicherte. Unter anderem durch unsere Suche nach sozialer Wärme begannen wir, soziale Gemeinschaften zu bilden – der Rest ist Geschichte.
Unsere Fähigkeit zur Wärme hat uns an diesen Punkt der Evolution gebracht.
Temperatursturz
Wer die so notwendige Wärme im kindlichen Nest hatte, hat sein Leben außerhalb des Nestes jedoch noch vor sich.
Dann erst werden wir in die Welt entlassen – und stossen allzu häufig auf menschliche Kälte, Instrumentalisierung und ein mechanistisches Denken, das die Tiefe und Seele des Menschen nicht erfassen kann.
Das ist tatsächlich kein neues Phänomen, das nur der modernen westlichen Gesellschaft gehört. Das erste dokumentierte humanistische Aufbegehren in der Antike wurde durch den Einzug egoistischer und kleingeistiger Ausbeutung menschlicher Ressourcen in die Kultur Athens ausgelöst.
Die erste prägnante humanistische Revolte ist die von Platon, [der] sich gegen die Instrumentalisierung der Bildung, z. B. für politischen oder beruflichen Erfolg, stellt.
– Ehem. deutscher Kulturstaatsminister Julian Nida Rümelin in »Humanismus als Leitkultur«
Und so finden wir uns in einem selbstgeschaffenen Paradox wieder.
In einem System, das allein auf Kälte, Stärke und Effizienz fusst, wird eine charakterliche Ausrichtung auf Wärme und Nähe als naiv und schwach empfunden. Und tatsächlich können wir nicht nur warm sein. Wärme ist nur dann echt und kraftvoll, wenn sie von einem Rückgrat aus innerer Stärke gehalten wird.
Doch wirkt diese Verbindung in beide Richtungen: Es kann keine echte Stärke geben, wo Wärme und Menschlichkeit fehlen. Wer nur stark und kalt ist, wird brüchig – und übersieht wichtige Nuancen der menschlichen Erfahrung.
Wann starten wir unsere Reise zurück zum ganzen Menschen?
Eine salzige Perle fiel auf den vorletzten Dachziegel, der seine private Festung am Zürichsee zieren sollte.
Der Tropfen zog einen kleinen Bogen über den rostfarbenen Ton, bevor er sich den Sonnenstrahlen des Sommers 1935 beugte und beinah spurlos in der Hitze verschwand. Er hinterließ nur einen blassen Schleier, ein vergängliches Andenken an diesen besonderen Moment. Bis zum nächsten Regen.
Und jetzt der letzte Ziegel. Er hakte kurz – dann saß er.
In zwölf Jahren und vier Phasen erbaut und nun endlich vollendet. Ein steinernes Refugium, der Erforschung der menschliche Psyche in ihrer ganzen Tiefe gewidmet. Ungestört.
Ein stiller Ort – erbaut, um zu lauschen.
Wer nach aussen schaut, träumt. Wer nach innen schaut, erwacht.
– Carl Gustav Jung
Schmelztiegel der Weltbilder
Der Mann auf dem Dach ist Carl Gustav Jung. Einst war er ein Schüler Freuds – dann kam der Bruch.
Durch eine entschlossene Einkehr in die steinernen Türme seines stillen Rückzugsortes, des historischen »Bollingen Tower«, hat er schließlich ein Lebenswerk geschaffen, das unser Bild von der menschlichen Psyche fundamental veränderte. Wie gelang ihm das?
Er löste philosophische Grenzen auf und verschmolz Weltbilder – er verband den Mystizismus des Ostens mit der Wissenschaft des Westens.
Er sah keinen Widerspruch zwischen der individuellen Psyche eines einzelnen Menschen und einer kollektiven Psyche voller uralter Symbole und Muster.
Und: Die damals übliche Selbstwahrnehmung des Menschen als eine Psyche war für ihn kein Anlass, die lebendige Existenz separater Teilpersönlichkeiten auszuschließen – oder Komplexe, wie er sie nannte.
Mehr Informationen zu Komplexen
Jungs Komplexe sollten aufgegriffen und unter dem Namen Ego States zu einer eigenständigen Therapieform reifen. Für mehr zur Arbeit mit diesen verkörperten Ich-Anteilen, lesen Sie den Artikel zu Ego States:
Beeinflusst von der Philosophie des Taoismus suchte Jung nach Verbindungen, die der westlichen Psychologie zuvor verschlossen geblieben waren.
Ein Zitat verdeutlicht seine Geisteshaltung zu seiner Suche, die von einem unerschütterlichen Glauben an sein wachsendes Weltbild und den visionären Charakter seiner inneren Regungen spricht – und zugleich von der Demut, damit auch falsch liegen zu können:
Aber nicht die Kritik des einzelnen Zeitgenossen, sondern die kommenden Zeiten werden über Wahrheit und Irrtum des Neuentdeckten entscheiden. Es gibt Dinge, die heute noch nicht wahr sind, vielleicht noch nicht wahr sein dürfen, aber vielleicht morgen.
– Carl Gustav Jung
Aus dem Prinzip des Taiji oder Tai Chi, geläufiger als Symbol des Yin & Yang, ergab sich für ihn ein Bild von Bewusstsein und Unterbewusstsein, das dem einer Wippe gleicht:
Ein Zu-viel auf der einen Seite erzeugt ein Zu-wenig auf der anderen.
Erst mit der dunklen Hälfte wird aus dem Licht des Taiji ein Kreis – ein Symbol für die Ganzheit aller Dinge.
Psychische Balance ist das Ergebnis eines ausgeglichenen Verhältnisses beider Teile unserer Psyche, die sich komplementär und polar zueinander verhalten.
Was heisst das? Wir sind ganz, wie vom Taiji symbolisiert. Es kann kein Schatten geworfen werden, wenn keine Lichtquelle vorhanden ist. Echte Sanftmut ist immer gepaart mit der grundsätzlichen Fähigkeit zur Aggression. Echte Weisheit erwächst aus dem Mut, ein Narr zu sein.
Verstossenes Potential
Psychische Störungen sind nach dem Analytischen Modell ein Widerstand des Menschen gegen die eigene Ganzheit.
Im Laufe unserer kindlichen und jugendlichen Entwicklung wurden wir entmutigt, alle Teile unseres Charakters frei und ungefiltert zu leben. Lob und Tadel zeigten uns, welche Anteile unseres Wesens präsentierbar sind – und welche nicht.
Darin war nicht nur die respektable Reife erwachsener Menschen enthalten, sondern ebenso Ungeduld, Unachtsamkeit, ein verwundetes inneres Kind und unterdrückte Aggression, die sich am leichten Opfer entladen konnten.
Wir werden von unserem Umfeld häufig nur dann akzeptiert, wenn wir versöhnlich und unkompliziert sind – und wir werden psychisch verwundet, wenn wir es nicht sind. In einem solchen Umfeld darf der dunkle und aggressive Teil unserer Psyche, der zu jedem Kind und jedem Menschen gehört, nicht im Licht des Alltags leben.
Kindisch ist nicht nur, wer zu lange Kind bleibt, sondern auch wer sich von der Kindheit trennt und meint, dass das, was er nicht sieht, nicht mehr existiere.
– Carl Gustav Jung
Er zieht sich in die Dunkelheit unseres Unterbewusstseins zurück und wird zu dem, was Jung den Schatten nannte. Mit unseren angeblich so schlechten Eigenschaften verstoßen wir auch einen Teil unserer Kraft, verletzen unsere kindliche Ganzheit. Dann sind wir uns unseres aggressiven Potentials nicht mehr bewusst – leben es jedoch immer noch unbewusst aus.
Das Taiji zum Vorbild: Unser Unterbewusstsein erzeugt Ausgleich
Diese kompensatorische Funktion unserer Psyche kann sich nach innen richten – in Gestalt eines neurotischen Wesens oder selbst-sabotierenden Verhaltens.
Oder aber sie richtet sich nach außen. Dann versteckt sie sich jedoch besser als offen gezeigte Aggression in Groll, Hass und stiller Verachtung. Im Verhalten wird diese verdrängte dunkle Energie oft als passive Aggression und eine ablehnende Haltung sichtbar.
Ein derart unterdrückter Teil der Psyche sucht sich selbstständig einen Raum, um leben zu dürfen. Gewaltvolle Träume voller dunkler, aggressiver Elemente können ein Hinweis darauf sein, dass Sie einem Teil Ihrer eigenen Psyche nicht nah genug sind.
»Nur was abgespalten ist, wird wirklich dunkel.« – Wagen Sie es, Ihren Schatten betrachten?
Ist die psychische Balance zu stark gefährdet und die Selbstregulation der Psyche nur noch in Form von psychotischen Zuständen möglich, wird dieser unterdrückte Teil in Form von Halluzinationen und Wahnvorstellungen sichtbar.
Unsere Aufgabe ist es, unsere verstossene Aggression wieder dahin zu holen, wo wir sie nutzen können – als bewussten Teil in unsere Gesamtpersönlichkeit integriert.
Der unerwartete Effekt: Wir erhalten nicht mehr Dunkelheit, sondern mehr Licht. Es ist fast schon paradox. Wir werden durch diesen Integrationsprozess leichter, unbeschwerter und spontaner.
Die Suche danach, jetzt ganz zu werden
All Ihre bisherigen Erfahrungen vereinigen sich in diesem gegenwärtigen, atmenden Moment Ihres Erlebens.
Doch zugleich wird eine Saat für Ihre Zukunft gesetzt. Sich im präsenten Moment anders zu entscheiden, anders zu handeln als Ihre verfestigten Muster von Ihnen verlangen, löst Sie augenblicklich aus einer Unterwerfung gegenüber Ihrer lebensgeschichtlichen Prägung.
Ich bin nicht das, was mir passiert ist – ich bin das, was ich entscheide zu werden.
– Carl Gustav Jung
Was Sie jetzt denken, fühlen und tun, ist beeinflusst von Ihrer bisherigen Lebensgeschichte, sicherlich – doch ist es ebenfalls eine immer wiederkehrende Gelegenheit, den eigenen Charakter neu zu formen. Tatsächlich ist der präsente Moment Ihr einziger Stimmzettel zu der Frage, wie Sie Ihre Zukunft erleben möchten.
Er ist eine nie versiegende Gelegenheit, die wichtigste aller Entscheidungen zu treffen: Welcher Mensch wollen Sie sein? Welchen Charakter formen Sie gerade?
Schon Heraklit war der Meinung: Charakter ist Schicksal.
Das Unterbewusstsein: Der Schlüssel zur Entwicklung des Menschen
Vor fast 120 Jahren formulierte Carl Gustav Jung in seiner Dissertation die These, dass die wirkliche Arbeit der Charakter- und Persönlichkeitsentwicklung auf der unbewussten Ebene erfolgt.
Ihr Unterbewusstsein wird damit der Schlüssel zu dem Leben, das Sie sich wünschen und das Ihrem Potential als Mensch entspricht. Gleichzeitig ist es die Kraft, die Sie an Ihre Vergangenheit fesselt, wenn sie unbewusst bleibt.
Das Bewusst-machen unbewusster Anteile sah Jung als den Schlüssel dazu, das volle seelische Potential des Menschen zu entfalten.
Solang du dein Unbewusstes nicht bewusst gemacht hast, wird es dein Leben lenken und du wirst es Schicksal nennen.
– Carl Gustav Jung
Es ist Ihr Unterbewusstsein, das so oft im entscheidenden Moment Ihre Hand führt, Ihren Fuss setzt und Ihre Zunge lenkt. Erst ein harmonisches Verhältnis zum eigenen Unterbewusstsein ermöglicht ein stimmiges Auftreten des Menschen in seiner Ganzheit.
Das kollektive Unbewusste: Der Boden, auf dem wir wandeln
Neben dem individuellen Unterbewusstsein nahm Jung ein kollektives Unbewusstes an.
Er nahm es als einen alles tragenden Boden wahr, in dem die Psyche eines jeden Menschen eingebettet ist. Als ein reiches psychologisches Fundament voller alter Symbole, Bilder und Muster, die bereits in der geistigen Welt unserer Ahnen vorhanden waren.
Diese Symbole begleiten uns seit Jahrtausenden und werden von uns als Archetypen leicht wiedererkannt, wo immer sie sich in unserer Welt zeigen. Sie wirken seltsam vertraut und verfügen über einen natürlichen Magnetismus, der beständig auf unsere Kultur und kollektive Entwicklung wirkt.
Uralte Bilder mit zeitlosem Effekt: Was unserer kollektiven Psyche entspringt, wirkt seltsam vertraut.
Erfahrbar werden diese Symbole in Träumen, Trancen und Visionen – und in Kunst, die uns mit unerklärlicher Kraft ergreift und bewegt. Sie treten in unsere Welt durch vertraute und uralte Rollen wie Mutter und Vater, Schüler und Meister, Weiser und Narr.
Doch wie übersetzt sich ein solches Weltbild in eine psychologische Analyse?
Das von Jung entwickelte analytische Modell sieht Arzt und Patient nicht als solche, sondern als eine lebendige Begegnung zweier entwicklungsfähiger Menschen.
Diese Haltung basiert auf dem Modell der Intersubjektivität. Es existiert keine objektive Wahrnehmung, immer nur einen Austausch zwischen zwei subjektiven Wahrnehmungen.
Die Begegnung findet deshalb auf Augenhöhe statt, einander sehend – körperlich wie seelisch. Das alte Bild vom distanzierten Psychoanalytiker am Kopfende einer Liege wird damit entschlossen verabschiedet.
Die therapeutische Haltung ist ein engagiertes, akzeptierendes und wertfreies Interesse am Menschen. Das Modell der Archetypen gibt Anlass zu der Annahme, dass sich in jedem Menschen andere primäre Muster verwirklichen. Jeder spielt eine andere Rolle.
Niemand muss sein, wie jemand anderes von ihm erwartet.
Eine therapeutische Sitzung nach dem Analytischen Modell kann dabei sowohl gesprächsorientiert als auch darstellend-kreativ sein. In der Analyse und Behandlung von Kindern wird das Spiel zum Schlüssel der Begegnung.
Was können Sie von Ihrem Therapeuten erwarten?
Wenn Sie offen für eine Psychotherapie sind, sollten Sie in jedem Fall in den ersten Sitzungen prüfen: Haben Sie gutes Gefühl im Kontakt zu Ihrem Therapeuten? Können Sie ihr oder ihm vertrauen?
Eine gesunde therapeutische Beziehung ist entscheidend für Sie, Ihre psychische Gesundheit und eine erfolgreiche Therapie. Wir alle sind Menschen. Auch Therapeuten sind nicht perfekt und auch umfassendes psychologisches Wissen schützt nicht vor unbewussten Regungen und gut versteckten Komplexen.
Es liegt in Ihrer eigenen Verantwortung, Ihren Therapeuten oder Ihre Therapeutin auf folgende Eigenschaften zu prüfen:
1. Reflektiert sich selbstEr muss für die erfolgreiche Anwendung der analytischen Methode fähig zur Selbstbeobachtung und Reflexion im gegenwärtigen Moment sein. Er muss wahrnehmen können, wie er den Verlauf der Therapie und die psychologische Entwicklung des Klienten beeinflusst. Er muss sich eigener Wunden und Komplexe gewahr sein, um sie nicht unbewusst in die Therapie zu tragen und deren Qualität zu verzerren.
2. Nimmt sorgfältig wahr und interpretiert nur vorsichtig
Statt schnelle Schlüsse zu ziehen, sollte sich Ihr Therapeut der Möglichkeit des Erzeugens von sogenannten Artefakten bewusst sein. Artefakte sind »künstlich« erschaffene psychologische Phänomene bei Ihnen als Klient. Diese sind jedoch nicht Ihr Problem! Diese Artefakte werden erst im therapeutischen Prozess erzeugt und bergen die Gefahr, als primäre Symptome fehlinterpretiert zu werden.
Abstinenz – Es geht ganz um Sie
Diese Fähigkeiten des Therapeuten sind eine Dimension der Abstinenz.
Eine andere Dimension ist, dass Ihre Wünsche nach Erwiderung der persönlichen Offenheit zur eigenen Lebensgeschichte mit Vorsicht behandelt werden. Ihr Wunsch darf bestehen – doch statt ihm zu entsprechen, wird er Ihnen gespiegelt.
Der Grund dafür ist, dass es zu einer Verzerrung Ihrer primären Psycho-Symptomatik kommen kann, die die therapeutische Professionalität gefährdet und der Wirksamkeit Ihrer Psychotherapie schadet.
Möglicherweise suchen sie danach, unangenehme Empfindungen während der Therapie dadurch zu lindern, Nähe zu suchen. Das kann ein Versuch sein, Themen zu meiden, die jetzt endlich betrachtet werden wollen.
Die empfundene Unausgeglichenheit kann negative Emotionen bei Ihnen wecken. Ihr Therapeut ist dennoch dafür verantwortlich, Ihrem Wunsch sanft nicht zu entsprechen.
Vertrauen Sie an dieser Stelle: Es geht hierbei um eine erfolgreiche Therapie für Sie – nicht darum, dass Ihr Therapeut seine eigene Verschlossenheit liebt. Es geht nicht um kühle Zurückweisung. Das Anliegen der ärztlichen Abstinenz ist, den Schutz des therapeutischen Raumes im richtigen, fühlenden Mass durchzusetzen.
Menschliche Wärme bleibt dabei Teil des therapeutischen Prozesses.
Ziele der Analytischen Psychologie
Der Weg zur inneren Führung
In der Zielsetzung der Analytischen Psychologie sind zunächst klassische Elemente zu finden, die die Analytischen Methode mit anderen Therapiemethoden vereint:
Es geht um das Lösen intrapsychischer Spannungen und die Bewältigung psychischer Störungen.
Die Therapie soll Sie zur Selbstbehandlung und der Aufbau von Selbstkompetenz befähigen.
Die Analytische Psychologie sucht Entwicklungschancen dort, wo sie üblicherweise nur selten vermutet werden: In den eigenen Komplexen und auf der Seite von »Patient« und »Krankheit« – nicht bei »Arzt« und »Gesundheit«.
Das Krankhafte kann nicht einfach wie ein Fremdkörper beseitigt werden, ohne dass man Gefahr läuft, zugleich etwas Wesentliches, das auch leben sollte, zu zerstören.
Unsere Aufgabe besteht nicht darin, es zu vernichten, sondern wir sollten vielmehr das, was wachsen will, hegen und pflegen, bis es schließlich seine Rolle in der Ganzheit der Seele spielen kann.
– Carl Gustav Jung, Gesammelte Werke 16 ' 293
Zentral für die Analytische Methode ist dabei das Therapieziel der Individuation.
Die Individuation: Der Weg des Menschen zum Unikat
Das Analytische Modell strebt danach, die konditionierte Psyche auf dem Weg aus der Selbstunterdrückung zu begleiten und ihr dabei zu helfen, zu ihrer natürlichen Vielseitigkeit und Lebendigkeit zurück zu finden.
Diese fundamentale Erweiterung der persönlichen Identität und die Wiedergewinnung früher psychischer Anteile in der zweiten Lebenshälfte nannte Jung Individuation. Die Individuation seines Wesens war nicht nur das höchste persönliche Ziel, das sich Jung selbst setzte – er sah es als universelles Ziel jeder lebendigen Seele.
Alle Beweise, die wir haben, deuten darauf hin, dass es vernünftig anzunehmen ist, dass in praktisch allen Menschen und fast allen Neugeborenen ein aktiver Wille, ein Antrieb für Gesundheit, Wachstum und Erfüllung vorhanden ist.
– Abraham Maslow
Die Individuation des Menschen ist die Entwicklung des eigenen Charakters zum Unikat und eine Integration aller verstoßenen Wesensanteile. Es ist tiefe Selbstverwirklichung durch die Entfaltung aller Fähigkeiten, Anlagen und Möglichkeiten, die als schlummerndes Potential schon jetzt in Ihnen lebendig sind.
Die Kräfte hinter der Individuation
Egoistischer Impuls oder der Mut zur Hingabe?
Jung war dabei überzeugt davon, dass die Individuation weniger mit Wollen und Durchsetzen zu tun habe, sondern vielmehr mit Loslassen. Eine Hingabe an natürliche innere Regungen des Unbewussten, die durch uns in die Welt dringen wollen.
Er erlebte das Unbewusste als eine lebendige, numinose Präsenz, den ständigen Begleiter jeder unserer wachen (und schlafenden) Augenblicke.
Wie können wir das Unbewusste befähigen, sich zu verwirklichen? Indem wir ihm freie Ausdrucksmöglichkeiten einräumen und dann untersuchen, was es zum Ausdruck gebracht hat. Selbstverwirklichung erwartet von der Psyche, dass sie sich mit sich selbst konfrontiert und sich dem zuwendet, was sie erzeugt.
– Anthony Stevens in »Jung« (Meisterdenker-Reihe)
Wir geben unserem Unterbewusstsein also das Signal, wachsen zu wollen – und lassen uns dann davon überraschen, was unsere uralte Körperintelligenz erzeugt. Die Individuation ist dabei kein egoistischer Prozess, sondern ermöglicht Ihren einzigartigen Beitrag an die Welt und die Gemeinschaft.
Es ist das Wachsen vom leicht beeinflussbaren und verletzlichen kindlichen Geist hin zum gereiften Menschen. Dieser Mensch hat seine Wunden akzeptiert und dadurch geheilt, hat vergeben und Demut [entwickelt] – und hat schließlich den Mut dazu entwickelt, sein Leben in einen höheren Dienst zu stellen.
Sie wollen fliegen? Dann müssen Sie zuerst schlüpfen.
Wir müssen uns unsere Leichtigkeit und Freiheit verdienen. Dabei sind die Gesetze der äußeren Welt vielleicht näher an inneren Gesetzen, als wir glauben. Vielleicht gilt auch in unserer Psyche: Wer den Schattenwurf betrachtet, kann daraus die Lichtquelle ableiten.
Betrachten Sie es doch einmal so: Wenn Sie nach Abschluss Ihrer Kindheit und Jugend vollkommen heil und »individuiert« wären, hätten Sie dann überhaupt einen interessanten Weg zu gehen?
Enantiodromie – Ein kompliziertes Wort für eine simple Idee
Mit mutiger Entschlossenheit, unsere Sozialisierung und Konditionierung zu durchbrechen, können wir einst scheinbar unüberwindliche Muster plötzlich in ihr Gegenteil verkehren.
Dazu fand Jung eine Entsprechung im Studium antiker griechischer Quellen – eine Perspektive, die diesen Vorgang als natürliche Bewegung jeder Existenz sieht.
Er stieß auf eine Idee von Heraklit: Jedes Ding habe eine innewohnende Tendenz, sich in sein Gegenteil zu verkehren. Heraklit nannte diesen Prozess Enantiodromie.
Alte Muster transzendieren
Kinder tendieren dazu, die Schwächen ihrer Eltern auszugleichen. Jung hatte in seinem eigenen Vater Defizite wahrgenommen, die er zu überwinden entschlossen war.
Frühe, vielleicht krankhafte Muster werden von uns erkannt und überwunden. Den frei gewordenen Platz kann das polare Gegenteil füllen, nach dessen Verwirklichung in unserem Leben und dessen Verfestigung in unserem Charakter wir über Jahrzehnte hinweg streben können.
Das menschliche Leben wird einfach nicht langweilig. Es gibt immer etwas zu tun. Und wenn wir feststecken, macht sich eine tiefe und uralte Kraft daran, die Barrieren zu durchbrechen und sich durch uns zu verwirklichen.
Mein Leben ist die Geschichte einer Selbstverwirklichung des Unbewussten.
– Carl Gustav Jung
Jungs Entdeckung der Enantiodromie prägte seine Betrachtung des menschlichen Lebensweges und bestätigte ihn in seiner Theorie der Individuation.
Sollten wir diese Dynamik als wahr erkennen, wirft sie eine Frage auf:
Wie freiwillig ist Wandel?
Möglicherweise herrscht in Ihnen nicht nur die Fähigkeit zum Wandel, sondern sogar ein innerer Zwang dazu?
Kurz stehen zu bleiben – das nennen wir Pause. Jedoch auf Dauer zu verharren lässt einrosten, müde werden und verhindert, dass wir unsere Neugier zum Leben befriedigen.
Das Unbekannte kann ängstigen oder anziehen. Die Welt hinter der Kurve wartet. Wagen Sie den entscheidenden Schritt?
Werden wir unglücklich und krank, wenn wir uns diesem »seelischen Imperativ« nicht beugen?
Beginnen wir unser Leben auf »der einen Seite« und müssen diese Einseitigkeit durch den Prozess der Individuation nach den Gesetzen des Taiji ausgleichen – uns also auf »die andere Seite« bewegen?
Alle Reisen haben eine heimliche Bestimmung, die der Reisende nicht ahnt.
– Martin Buber
So bleibt die Frage übrig, wie wir auf die andere Seite gelangen.
Wie finden wir den Weg?
Können wir mit Führung rechnen?
Was zeigt uns, das wir in die richtige Richtung gehen?
Vielleicht beantworten sich diese Fragen durch eine letzte Geschichte aus Jungs persönlicher Lebenswelt:
Ein Drängen aus der Tiefe
Jung betonte immer wieder die Bedeutung des Numinosen. Nicht jeder unbewusste Anteil muss in Worte gefasst, nicht jede Regung der Seele zitierbar werden.
Er selbst entwickelte im Laufe seines Lebens eine immer tiefere Beziehung zu einem solchen nur schwer zitierbaren Teil in sich, den er No. 2 nannte.
No. 1 und No. 2
Der Name No. 2 symbolisierte eine Abgrenzung zu No. 1, den sozialisierten Teil seiner Persönlichkeit, der für Jung in seiner späteren Entwicklung zunehmend an Bedeutung verlor.
No. 1 war sein konditionierter Geist, der eine Maske zu tragen gelernt hatte, um von seinen Mitmenschen akzeptiert und geliebt zu werden.
Später, als er die Bedeutung dieses inneren Paares erkannte – und dass sie nicht nur in ihm, sondern in jedem Menschen lebendig sind – benannte er No. 1 in das Ich und No. 2 in das Selbst um. Die Individuation ist der Weg vom Ich zum Selbst.
No. 2 war ein geheimnisvoller Anteil seiner Psyche, der bedingungslos und kraftvoll nach Verwirklichung und dem Erschaffen eines Lebenswerkes strebte. Die Sprache gibt Hinweise: Selbst-Verwirklichung.
Er nahm diesen erblühenden Teil seiner Psyche als aufstrebende Lebenskraft wahr, die keine Entsprechung in Worten besaß und sich nicht um die Akzeptanz und Zustimmung der Gesellschaft sorgte – und sogar frei davon sein musste, um ihre Kraft zu entfalten.
No. 2 sollte Carl Gustav Jungs Leben und spätes Werk entscheidend prägen.
Denn grenzenlos und unendlich vielseitig erschien ihm No. 2 – es war »überhaupt kein Charakter sondern eine vita peracta, ein erfülltes Leben, geboren, lebend, gestorben, alles in einem, eine Totalschau der menschlichen Natur selber«.
Die wirklichen Geheimnisse kann man gar nicht verraten.
– Carl Gustav Jung
Ein Herbstabend in Wien
Aus dem Wartezimmer der Praxis drang noch Licht, das müden Kastanienblättern vor dem Fenster einen warmen Anstrich gab.
Ein junger Spatz klammerte seine dünnen Füsse fester um einen nur unwesentlich dickeren Zweig, der unruhig im Wind schaukelte. Tapfer trotzte der kleine Vogel nassen Böen, um das spätabendliche Treiben geduldig zu beobachten.
Die winzige innere Uhr unter dem zerzausten Gefieder sagte ihm, dass heute etwas anders war.
Und er hatte Recht: Er war zur richtigen Zeit am richtigen Ort, um einen historischen Moment zu beobachten. Es war die erste Versammlung einer kleinen Gruppe von Psychologen, die sich nun jeden Mittwoch im Wartezimmer von Sigmund Freud traf.
Uneinige Vereinigung
Die Mittwochs-Gesellschaft legte 1902 den Grundstein für die später gegründete Internationale Psychoanalytische Vereinigung. Es begann als ein reger Ideenaustausch unter einigen der fähigsten Psychologen ihrer Zeit.
Die Anwesenden genossen es sehr, bei einem Tee endlich einmal frei sprechen zu können – und dabei verstanden zu werden. Natürlich waren sich dabei nicht immer alle einig.
So bestand Freud darauf, dass die Persönlichkeit auch besteht – und zwar aus drei festen Teilen: Dem Es, dem Ich und dem Über-Ich.
Diese überzeugte These traf nicht allerseits auf kritiklose Resonanz. Einer seiner Schüler vermutete, dass sich aus dieser Grundpersönlichkeit weitere Teile bilden konnten und mussten, wenn der Mensch anpassungsfähig in seiner Welt sein wollte. Dieser Schüler war Carl Gustav Jung und er argumentierte für das, was er später Komplexe nennen wird.
Und noch mehr Aufmüpfigkeit musste Freud ertragen. Paul Federn schloss sich Jung an und vermutete ebenfalls viele unterschiedliche Persönlichkeiten in uns, die nicht immer Kenntnis voneinander haben mussten. Er hatte einen eigenen Namen für sie: Ich-Zustände oder Ego States.
Eine Idee wird zur Theorie – und die Theorie zur Therapie
Als Federn an Zuversicht gewann, mit seiner Annahme richtig zu liegen, formulierte er eine erste Theorie.
Zu dieser gehörte die Annahme, dass wir uns immer als Ich empfinden – auch wenn gerade nur ein einzelner Ich-Zustand in unserer Psyche aktiv ist.
Im Alltag »führt« das Ich. Es ist unter normalen Umständen die dominante Teilpersönlichkeit.
Die meisten anderen Ego States sind unbewusst, handeln jedoch mehr oder weniger autonom. Diese Autonomie ist nach Jung die Grundlage jeglicher neurotischer Regung – Ego States haben einen eigenen Willen dazu, in unserem Leben Spuren zu hinterlassen.
Federn tauschte sich nun mit Psychologen und Psychotherapeuten seiner Zeit über die Theorie aus, die schliesslich auch Herz und Verstand eines amerikanischen Psychotherapeuten erreichte. Die Theorie hatte erfolgreich den Atlantik überquert, und wurde nun von John und Helen Watkins interessiert aufgenommen – und von da an über Jahrzehnte angewandt und erprobt.
Gemeinsam verfeinerte das Ehepaar die Theorie und entwickelte sie schliesslich weiter zur therapeutischen Methode.
Das Wesen der Ego States
Ego States gehören zu uns wie die Finger zur Hand
Obwohl wir nicht mit ihnen geboren werden, sind Ego States ein ganz natürlicher Teil unserer Psyche. Sie entstehen als Teil der natürlichen geistigen Entwicklung des Kindes im Dialog mit der Umwelt.
Unser Körper ist in Wahrheit eine Gemeinschaft verschiedener Individuen, die harmonisch zusammenarbeiten, um unsere Zugehörigkeit zu der Welt zu ermöglichen.
– Dr. Kai Fritzsche, Leiter des Instituts für klinische Hypnose und Ego State Therapie (IfHE)
Durch wiederholte Gedanken, Gefühle, Worte und Handlungsmuster entstehen dichte neuronale Netzwerke und dadurch auch eine biologische Realität der Ego States im Gehirn und Nervensystem des Menschen.
Ego States, so real wie Ihre Finger und in der Tiefe miteinander verbunden: Ihre Hand als lebendige Metapher für Ihre Psyche.
Wird von uns Handlungsbereitschaft zu einem Lebensthema gefordert, für das bereits ein Ego State in unserem System angelegt ist, so wird in Sekundenbruchteilen das zugehörige neuronale Netzwerk aktiviert.
Wir werden im Handumdrehen fähig, den benötigten Zustand aufzurufen.
Dieser Prozess läuft vollkommen unbewusst und hat uns im Laufe der Evolution sicher nicht nur ein Mal aus einer kniffligen Situation geholfen – auch wenn wir den Ego State, der uns zum Schutz unserer Kinder zuverlässig Säbelzahntigerschnauzen mit spitzen Stöcken treffen liess, mittlerweile seltener benötigen.
Sie wünschen sich Beispiele aus einer moderneren Welt?
Zum Lieben ermutigt
Lea ist ein verschmustes Kind und verschenkt gern Dinge. Sie stösst auf positive Resonanz einer liebenden Familie, die ihren Kuscheltrieb freudig erwidert.
Sie erfährt Dankbarkeit und ein Strahlen aus liebenden Augen als Reaktion auf ihre Art, mit ihrer Umwelt in Kontakt zu treten. Sie will also wieder und wieder geben und Nähe suchen, um diese Resonanz erneut zu erfahren.
Über die Zeit entwickelt sie eine tiefe Zuversicht, die geliebten Reaktionen erzeugen zu können. Sie bildet einen Nähe suchenden Ego State aus, der Geben und Lieben als bevorzugte Lösung für Lebensprobleme erkannt hat. Er wird von Lea gern, schnell und problemlos aufgerufen – und wird ein prägnanter Teil ihrer Persönlichkeit.
Lea wird von Freunden und Familie geliebt und wird immer wieder zu Offenheit und Leichtigkeit im Umgang mit Menschen ermutigt.
Leas Lebenswelt ist ein so wundervolles wie seltenes Szenario.
In die Verhärtung gezwungen
Nicht weit von Leas Haus entfernt wohnte damals Leon. Er brauchte dringend eine Lösung, mit plötzlichen Schlägen umzugehen.
Er brauchte einen Ego State als automatischen Schutzmechanismus, wenn seinen Vater eine aggressive Willkür packte. Die gesuchte Lösung war, auf Knopfdruck einen Modus aus Verhärtung und Abwehr aufrufen zu können.
Schliesslich wurde diese Verhärtung zum festen Teil seiner Persönlichkeit, jederzeit leicht aktivierbar. Das war sogar manchmal nützlich – wenn dieser Ego State tatsächlich benötigt wurde, konstruktiv aktiv werden konnte und zum richtigen Zeitpunkt leicht aufrufbar war.
Leon konnte sich deshalb in einigen Situationen zur Wehr setzen, in denen Lea verletzlicher gewesen wäre. Doch hätte Lea diese Situationen überhaupt erzeugt?
Ein persönlicher Problem-Magnet
Denn viel häufiger erschafft dieser Ego State unnötige Konfrontationen, die Leon eigentlich gar nicht will.
Er weiss auch nicht so recht, wieso ihm das immer wieder passiert. Dieser Teil seiner Psyche wird nicht nur dann aktiviert, wenn er ihn wirklich braucht. Leons Unterbewusstsein entscheidet eigenständig, wann es ihn ruft.
Nun wohnt Leon längst nicht mehr daheim. Doch der Ego State blieb nicht in seinem Elternhaus zurück – er begleitet ihn heute noch. Deshalb reicht manchmal schon ein kleines Missverständnis, um einen schroffen Teil seiner Psyche zu wecken, dessen Lösungsstrategien Abwehr und Verhärtung sind.
Das Potential für irritierende Konflikte liegt auf der Hand. Leon hat keinen Rückenwind, sondern ständig eine Böe im Gesicht.
Was passiert, wenn er sich umdreht?
Ein ganzes Team für unsere Erfüllung
Gesunde Ego States »verstehen« einander und arbeiten flüssig zusammen.
Sie bilden ein inneres Team, das unsere spontane Handlungsfähigkeit in kniffligen Situationen verbessert. Sie geben uns ein grösseres Repertoire von Antworten, mit den Herausforderungen des Lebens umzugehen.
Ein weiteres Charakteristikum von Ich-Zuständen ist, dass ihr Entstehen in der Regel die Anpassungsfähigkeit des Individuums erhöht und es ihm ermöglicht, mit einem spezifischen Problem oder einer spezifischen Situation besser fertig zu werden.
– John und Helen Watkins in »Ego States – Theorie und Therapie« (2003)
Aufeinander eingespielte Ego States helfen uns dabei, ein gesundes Selbstbewusstsein und innere Ruhe zu entwickeln. Wir wissen, dass wir im richtigen Moment schon »umschalten« können, wenn es von uns gebraucht wird.
Also fühlen wir uns gut vorbereitet und können uns entspannen. Wir fangen an, uns selbst zu vertrauen – auch in kritischen Situationen und unter hoher Anspannung.
Völlig normal: Separate Persönlichkeiten
Ego States sind mehr als eine »Färbung« unseres Bewusstseins. Jeder Ich-Zustand hat eigene Emotionen, Erinnerungen, Überzeugungen und Fähigkeiten.
Jeder dieser Ego States reagiert anders auf seine Umwelt – und andere Situationen wecken andere Ego States. Die sorgfältig zurecht gelegten Vorhaben und eisernen Schwüre der einen Persönlichkeit können in einem anderen »Modus« plötzlich vollkommen vergessen sein.
Haben Sie schon mal einen Vorsatz zum neuen Jahr gebrochen? Und am nächsten Morgen wussten Sie dann auch nicht so recht, wie das passieren konnte und was daran überhaupt so verlockend war?
Zurück bleibt ein unbequemes Gefühl, von dem wir uns gern schnell wieder ablenken.
Der Wert des eigenen Wortes
Unter solchen Szenen kann auf Dauer unsere Selbstachtung leiden. Denn erinnern Sie sich: Wir empfinden uns immer als »Ich«.
Und dann brechen wir unser eigenes Wort und tun einfach nicht, was wir uns so fest vorgenommen hatten. In diesem Szenario sind wahrscheinlich Ego States unterschiedlicher Werte und Überzeugungen aktiv.
Oder es sind sogar die gleichen Werte, nur unterschiedlich interpretiert: Der eine Teil unserer Persönlichkeit ist überzeugt, dass Disziplin der Weg in die persönliche Freiheit ist. Der andere Teil will frei sein, auch mal zu geniessen. Beiden Ego States geht es um Freiheit – und trotzdem verstehen sie sich nicht.
Kommen solche Konflikte auf, sind wir nicht »aus einem Guss« und es fällt uns schwer, uns als ganzer und achtenswerter Mensch zu fühlen.
Neue Bedingungen aushandeln
Um unsere Ich-Zustände zu harmonisieren, können wir sie an einen Tisch bitten und einladen, wieder in Kommunikation miteinander zu treten.
Dazu müssen wir aktiv das Gespräch suchen, denn alles steht und fällt mit unserer Moderation des Austausches. Da Ego States ganz eigene Persönlichkeiten sind, können sie auch direkt angesprochen und befragt werden: Zu ihrer Geschichte, ihren Aufgaben, ihren Gefühlen und Erlebnissen, ihren Ängsten und Aggressionen.
So können wir etwas über die Entstehung unserer Ich-Zustände und dem Zweck ihrer Existenz in unserem Leben zu erfahren.
Doch zuerst ist wichtig zu wissen: Wen sprechen wir da eigentlich an?
»Dunkle« Ego States
Die Sollbruchstellen unserer Psyche
Dunkle Ego States werden von unserem Unterbewusstsein geschaffen, um unsere Grundpersönlichkeit vor Trauma und Schmerz zu schützen. Bleiben diese Anteile unserer Psyche abgespalten, beginnen sie ein Eigenleben.
Wird in kritischen Situationen ein ebenso verletzter wie unbewusster Ego State geweckt, werden wir oft von einer unerklärlich impulsiven Regung aus unserem Inneren überrascht. Wir werden laut, brechen in Tränen aus oder werfen Gegenstände durch den Raum.
Andere Menschen im Raum können ebenso irritiert sein: Wo kam das denn her?
Verletzte Ego States sind das schwache Glied in unserer »Kette«.
Bei einem hohen Level an Energie spüren wir unsere stabile Grundpersönlichkeit. Sinkende psychische Energie jedoch erhöht die Aktivität verwundeter und traumatisierter Ego States.
Höhere Anspannung und Unsicherheit halten die »Problemlöser« in uns in dauerhafter Aktionsbereitschaft und machen unser gesamtes psychisches System zerbrechlicher.
Oft reichen schon kleine Auslöser, damit eine viele Jahre alte Wunde wieder schmerzt.
Verletzte Ego States: Bitte nicht berühren
Geschwächte oder verletzte Ego States sind unser »wunder Punkt«.
Sie haben sich zum Schutz unserer Psyche abgekapselt und können mit Gefühlen der Zurückweisung, Angst, Verwirrung und Enttäuschung beladen sein.
Sie können einen Opfercharakter haben, der eine Strategie der Unterwürfigkeit und des Wegduckens verfolgt. Bloss keine Konfrontation, nur keine Konflikte erzeugen. Der Betroffene fühlt sich bei aktivem Ego State oft unfähig, sich selbst zu behaupten oder zu verteidigen.
Der verletzte Anteil kann auch die gegensätzliche Strategie wählen und stattdessen »täternahe« Positionen einzunehmen. Diese sind von aggressiven, entwertend-verächtlichen oder sadistischen Zügen geprägt. Hier wird die einst erfahrene Schwächeposition kompensiert, indem ein Positionswechsel erzwungen wird und wir endlich der »Stärkere« sein können.
Wir reagieren vielleicht mit Vermeidungsstrategien wie Süchten oder Zwängen. Dadurch wollen wir unbewusst alle Situationen meiden, die uns unseren wunden Punkt spüren lassen könnten.
Verletzte Ego States sind passiv. Die aktiv gelebte Aggression, Zwangshandlung oder Suchtroutine signalisiert den Übergang zum Retro-State.
Retro-States: In der Vergangenheit gefangen
Retro-States haben ein Verhalten erlernt, das uns einst »Luft zum atmen« gab. Das jeweilige Verhalten mag damals sinnvoll gewesen sein – und ist es jetzt vielleicht nicht mehr.
Bei Wutausbrüchen oder anderen impulsiven Reaktionen ist oft ein Retro-Zustand aktiv. Dieser hat gelernt, dass uns Wut schützt oder dabei hilft, den eigenen Willen durchzusetzen.
Retro-States können aktiv werden, um die Emotionen der wunden Punkte und verletzten Ego States nicht zu fühlen. Diese Kompensation kann neben Zwang und Sucht auch in Essstörungen und Selbstverletzung sichtbar werden.
Retro-States können bewusst gemacht und in die Persönlichkeit integriert werden, um nur dann aktiv zu sein, wenn sie wirklich gebraucht werden. Nur dann können sie auf eine konstruktive Art und Weise zum Einsatz zu kommen.
Nur dann werden sie fähig, Teil unseres inneren Teams zu werden.
Konflikt-States: Ein zerstrittenes Team
Ego States können mit anderen im Konflikt stehen – und Retro-States sind das häufig. Erst »lassen wir Dampf ab« und dann fühlen wir uns schlecht dafür.
Was passiert, wenn sich unser inneres Team einfach nicht einig werden will? Das gleiche wie in allen anderen Teams: Das Team ist geschwächt und die Teammitglieder verlieren aneinander Energie. Sie können nicht gemeinsam kraftvoll vorangehen, bis die Konflikte belegt sind.
Der Unterschied? Menschen können sich trennen und sich neue Verbündete suchen. Unser inneres Team bleibt jedoch bei uns. Ist dieses zerstritten, so verbraucht es die Energie, die wir eigentlich für die wirklich wichtigen Dinge benötigen.
Alle anderen bezwingen müssen, damit man stehen kann? Wieder und wieder? Klingt nach Reibungsverlusten.
Unsere angeborene Fähigkeit, kraftvoll und beweglich durch die Welt zu gehen und angemessen auf Herausforderungen und Menschen zu reagieren, wird geschwächt.
Konfliktzustände zeigen sich durch Aussagen oder Empfindungen wie »Ich hasse mich, wenn ich so bin«. Das kann als klares Zeichen verstanden werden, dass Ego States miteinander nicht in Harmonie schwingen können und Reibungsverluste in unserer täglichen Energie erzeugen.
Ein inneres Team oder ein Haufen Kobolde?
Bei aller »Dunkelheit« ist das Spiel abgespaltener Ego States nicht immer schmerzhaft oder dramatisch schicksalhaft.
Ein Zitat von Carl Gustav Jung beschreibt munter, wie sie – jedoch wieder unter dem Namen Komplexe – ganz menschliche Situationen erzeugen können, über die es sich zu lachen lohnt:
Die Komplexe benehmen sich ja wie kartesianische Teufelchen und scheinen sich an koboldartigen Streichen zu ergötzen.
Sie legen einem gerade das unrichtige Wort auf die Zunge, sie entziehen einem ausgerechnet den Namen der Person, die man vorstellen sollte, sie verursachen den Hustenreiz gerade beim schönsten Piano im Konzert, sie lassen den zu spät Kommenden, unscheinbar sein Wollenden mit Krach über einen Stuhl stolpern, sie empfehlen, bei einem Begräbnis zu gratulieren, anstatt zu kondolieren.
– Carl Gustav Jung, Ges. Werke
Wie also machen wir unsere inneren Kobolde in einer therapeutischen Situation erlebbar und integrierbar, bevor sie uns (wieder) über Konzertgäste stolpernd ins schönste Intermezzo husten lassen?
Die Ansätze der Ego-State-Therapie
Alte Begleiter wecken
Ego States können »aktiviert« werden. Erlebnisaktivierende und regressive therapeutische Methoden ermöglichen, unbewusste und dunkle Ego States ins »Licht« des Bewusstseins zu bitten.
Da diese Teile unserer Psyche starke Emotionen und alte Wunden tragen, ist eine vorsichtige Näherung wichtig. Deshalb stärken wir zunächst den inneren Beobachter. Dieser Teil in uns ist dazu fähig, auch die schmerzhaftesten persönlichen Erfahrungen aus einer gesunden Distanz und deshalb mit mehr Klarheit wahrzunehmen.
Eine Methode, durch den inneren Beobachter wahrzunehmen, ist die Bildschirm-Beobachter-Technik. Dabei werden Erinnerungen wie auf einer Leinwand betrachtet – und können vielleicht zum ersten Mal seit langer Zeit wieder angeschaut werden, ohne eine überwältigende körperliche Reaktion auszulösen. Dadurch bietet diese Methode einen Schutz vor erneuter Traumatisierung während der Therapie.
Gibt es noch andere Methoden, die uns auf dem Weg Schutz bieten können?
Das SARI-Prinzip: Wenn der Karabiner-Haken gut sitzt
Es ist wichtig, dass Sie bei der Neukonfrontation alter Erlebnisse nicht erneut »fallen«. Das SARI-Prinzip erfüllt auf psychischer Ebene die Aufgabe, die ein Sicherungsseil an der Felswand hat. Auf dem Weg nach oben sichern wir uns alle paar Meter ab.
Im ersten Schritt schaffen wir Sicherheit durch einen Fokus auf Ihre starken Ich-Zustände (Safety). Dieses »ressourcenorientierte« Vorgehen sorgt dafür, dass wir immer von einem stabilen Fundament aus arbeiten.
Aus einem sicheren Stand heraus suchen und betrachten wir die schmerzhaften Teile Ihrer Vergangenheit und Gegenwart, die noch nicht Teil Ihres inneren Teams sind (Accessing) – und deshalb auch noch nicht für eine selbstbewusst gelebte Zukunft nutzbar sind.
Wir arbeiten uns durch Ihre Trauma-Erfahrung hindurch und spüren, wie Sie seit dem Entstehen Ihrer Wunde gereift und dem Trauma jetzt gewachsen sind. Sie können die Erfahrung mit offenen Augen und aufrechter Haltung neu definieren. Dadurch kann es an- oder sogar aufgelöst werden und Ihre Psyche kann sich auf einem neuen Level stabilisieren (Resolving & Restabilisation).
Schliesslich arbeiten wir daran, Ihren neuen Seinszustand zu festigen (Integration & Identity). Sie haben etwas über sich selbst erfahren, vielleicht eine verdrängte Erinnerung erhalten. Diese kann nun ein gesehener und gewürdigter Teil Ihrer Geschichte werden und Ihre Identität stärken.
Sie können selbst definieren, welchen Sinn und Zweck die Erfahrung in Ihrem Leben hat. In Ihren Wunden steckt immer auch Licht und Lernenswertes – und die Chance auf charakterliche Reife.
Die Ziele der Ego-State-Therapie
Mehr Kontrolle durch den Mut, endlich loszulassen
Das Ziel der Therapie ist es, die unterschiedlichen Teile Ihrer Psyche sichtbar und erlebbar zu machen. Das ermöglicht Ihnen:
Diese Teile zu trösten, zu schützen und zu stärken,
Ihr konstruktives Potential zu erkennen,
Sie in die Gesamtpersönlichkeit zu integrieren und sie schliesslich
Bewusst nutzen zu können
Durch ein Bewusst-Machen der Ego States nehmen Sie ihnen die Unkontrollierbarkeit. Damit verlieren sie ihre unerwünschten Nebenwirkungen, bleiben aber Teil des psychischen Systems und werden konstruktiv nutzbar.
Was heisst das für Ihr tägliches Erleben?
Gegenspieler wechseln das Team
Sie können Mitglieder für Ihr inneres Team gewinnen – und zugleich weniger Gegner auf dem Spielfeld haben.
Einst »dunkle« Ego States können konstruktive Mitspieler im täglichen Erleben werden und Ihr Repertoire erweitern, angemessen mit Ihrer Umwelt umzugehen. Durch die Auflösung innerer Konflikte können Sie zuvor unfreiwillig gebundene Energie wiedergewinnen, die Sie neu investieren können.
Gegeneinander oder doch lieber miteinander?
Es kann ein Wandel Ihres Selbstbildes stattfinden. Es kann Ihr Weg vom verletzten und traumatisierten Menschen hin zu einem selbstsicheren Menschen mit vielseitigen Lösungsansätzen für tägliche Herausforderungen sein – und der nötigen inneren Ruhe, diese auch effektiv einzusetzen.
Es kann Ihr Schritt in ein neues Leben sein. Wie Sie sich auch entscheiden, eines ist sicher: Sie sind nicht allein.
Ankunft und Aufbruch
1969, Vereinigte Staaten von Amerika.
In den Strassen leisten Menschen in bunten Kleidern Widerstand gegen einen brutalen und verlustreichen Angriffskrieg im Regenwald Vietnams. Sie sind beeinflusst von einem erwachenden globalen Bewusstsein durch das erste vollständige Bild unseres Heimatplaneten aus dem All.
Überhaupt ist plötzlich viel los im Orbit: Zur gleichen Zeit wird der »Wettlauf ins All« von amerikanischen Wissenschaftlern und Astronauten gewonnen.
Die Raumsonde Apollo 11 berührt den blassen Staub des Mondes und lenkt in der eisigen Stille einer dünnen Atmosphäre erfolgreich von einem ebenso stillen Durchbruch in der Trauma-Therapie ab.
Sichtbarer als Fortschritte in der Trauma-Therapie: Ein Bild, das durch die Medien ging.
Ein biologischer Aus-Knopf für das Überleben in freier Wildbahn
Psychosomatik war damals ein junges Feld.
Trotzdem oder gerade deshalb wurde Dr. Peter Levine von der Frage wach gehalten, warum Tiere in freier Wildbahn so selten Traumata erfahren – und das, obwohl sie so häufig lebensbedrohlichen Situationen ausgesetzt sind.
Er fand eine Antwort. Eine Gazelle auf der Flucht bricht oft zusammen, bevor sie von einem Löwen gefangen und getötet werden kann. Der Totstell-Reflex der Gazelle – ein Mechanismus ihres vegetativen Nervensystems – ist ein automatischer Schutz vor Überlastung.
Weil der Löwe kein Aas frisst, überlebt die Gazelle den Angriff häufig, sofern ihr biologischer Aus-Knopf rechtzeitig aktiviert wurde. Nach ein paar Minuten in unfreiwilliger, doch lebensrettender, Ruheposition steht sie auf und beginnt, am ganzen Körper zu zittern.
Traumata sind das Resultat der stärksten Kräfte, die der menschliche Körper aufzubieten vermag.
– Dr. Peter Levine
Die Anspannung, die zuvor in ihrem Nervensystem aufgebaut wurde, entlädt sich durch ein kraftvolles Zittern der Muskeln. Kurz darauf springt sie weiter – körperlich und geistig unversehrt.
Wird sie jedoch beim Zittern gestört, so wird der Prozess blockiert.
Sie kann den Schrecken dann nicht mehr abschütteln und leidet danach unter dauerhafter Angst, Anspannung und Unruhe. Ihre Fähigkeit zum Aufbau und Erhalt sozialer Bindungen ist geschädigt.
Kurz: Sie hat ein Trauma erlitten.
Ständig auf der Hut, häufig in Gefahr – und doch frei von Trauma, sofern sie nach erfolgreicher Flucht zittern darf.
Was heißt das für die Entstehung von Traumata beim Menschen?
Ein frischer Blick auf Trauma
Wenn vitale Impulse blockiert werden
Bleibt die mobilisierte Überlebensenergie in unserem Nervensystem »stecken«, so erzeugt auch unser Körper dauerhafte Alarmbereitschaft. Er ist dann ständig bereit, zu fliehen oder zu kämpfen.
In der zivilisierten Welt fällt schnell auf: Diese so wichtige Entladung darf häufig nicht stattfinden. Unser Zittern wird gestört oder nicht erlaubt und deshalb unterdrückt. Aus Scham und Angst vor sozialer Zurückweisung verhindern wir, unkontrolliert von den Impulsen unseres Körpers erfasst zu werden.
Wir finden nach traumatischen Erlebnissen nicht genug Ruhe, Schutz oder Zeit, der Selbstregulierung unseres Nervensystems Raum zu geben. Wir erlauben unserem Körper nicht, in diesen kritischen Momenten die Führung zu übernehmen.
Das Trauma sitzt im Körper
Die Grundannahme von Somatic Experiencing ist, dass Traumata grundsätzlich verkörpert sind. Im Körper und Nervensystem entstehen sie – und dort können sie auch wieder gelöst werden.
Dabei muss sich manchmal nur unser Körper an das Trauma erinnern, ohne dass unser Geist überhaupt etwas davon mitbekommt.
Traumata werden als normale Reaktionen auf außergewöhnliche Situationen verstanden, nicht als Krankheit oder Störung. Was unser Körper tut, hat immer Sinn und Zweck. Unser System hatte viel Zeit, um effektive Mechanismen im Umgang mit den Gefahren aus unserer Umwelt auszubilden.
Verdrängung hat sich scheinbar als äußerst nützlich erwiesen. Akute Traumata zu verdrängen und nach einer kritischen Erfahrung schnell wieder auf die Umwelt reagieren zu können, hat unsere Überlebenschancen im Laufe der Evolution erhöht.
Jeder Spieler braucht seinen Gegenspieler
Wir bezahlen für die Fähigkeit, schnell wieder reaktionsfähig zu werden, mit einem Verlust unserer verfügbaren Lebenskraft.
Ein Trauma ist eine Erfahrung, die die Bewältigungskapazität einer Person übersteigt und die biologische Selbstregulation nicht wieder in Gang kommen lässt.
– Dr. Peter Levine
So wie wir einen linken und einen rechten Arm haben, so arbeitet auch unser Nervensystem mit Gegenspielern. Es ist unterteilt in Aktivierungssystem und Entspannungssystem, sympathisches und parasympathisches Nervensystem.
In kritischen Situationen mobilisiert der Sympathikus unsere Energie für Kampf oder Flucht, schüttet Adrenalin und Cortisol aus und versetzt unseren Körper in die Bereitschaft, jetzt sofort für unser Überleben aktiv zu werden.
Der Parasympathikus hingegen führt uns nach überstandener Gefahr in die Entspannung der Muskeln und des Geistes. Er hilft uns dabei, traumatische Momente loszulassen und entscheidende Lernerfahrungen sanft zu integrieren.
Was passiert, wenn die bereitgestellte Energie nicht kanalisiert wird und unser Entspannungssystem seine Arbeit nicht tun darf?
Gefangene Energie
Wird die vom Sympathikus mobilisierte Energie nicht für Kampf oder Flucht benutzt, findet sie keinen Weg aus dem Nervensystem und friert zusammen mit unserem Körper in einer Erstarrungsreaktion fest.
In uns gefangen zirkuliert sie schliesslich im Nervensystem.
Dadurch hält sie unser System in einer ständigen Kampf- oder Fluchtbereitschaft. Die entstehende Dauerspannung beeinträchtigt die Arbeit des Parasympathikus und damit auch die natürliche Flexibilität des Nervensystems, zwischen Anspannung und Entspannung wechseln zu können.
Ein Trauma ist im Nervensystem gebunden. Durch einschneidende Erlebnisse hat dieses seine volle Flexibilität verloren. Wir müssen ihm deshalb helfen, wieder zu seiner ganzen Spannbreite und Kraft zurückzufinden.
– Dr. Peter Levine
Was heißt das für unser Leben und Erleben nach einem Trauma ohne Entladung?
Die Folgen dauerhafter Überspannung
Aus dieser Dauerspannung ergibt sich eine Einschränkung der Körperfunktionen, die nur bei intakter Entspannungsfähigkeit vollständig verfügbar sind.
Wenn selbst eine Maschine Pausen braucht, um nicht zu schnell zu verschleißen – wie steht es um Sie?
Wenn wir die ganze Zeit heiß laufen, kommen wir natürlich nicht zum abkühlen. Dann werden unter anderem beeinträchtigt:
Schlaf & Erholung (Stressabbau)
Stoffwechsel & Verdauung
Hormonhaushalt
Muskeltonus & -regeneration
Diese physischen Symptome bleiben natürlich nicht ohne Effekt auf die Psyche. In der Folge leiden psychische und soziale Fertigkeiten:
Aufbau sozialer Bindungen
Präsenz & Innere Ruhe
Fähigkeit zu Konzentration & Fokus
Natürliche Resilienz & Selbstregulierung
Wie können wir unserer gefangenen Lebensenergie die Tür wieder öffnen?
Somatic Experiencing: Die Methode
Die Arbeit mit dem Körper
Zunächst richten wir den Fokus auf die starken, sicheren und lebenserprobten Anteile in Ihnen – Ihren inneren Ressourcen.
Sie ziehen Ihre Aufmerksamkeit bewusst von den zerbrechlichen und verletzten Anteilen ab und nutzen die freigewordene Aufmerksamkeit für einen entschiedenen Fokus auf die starken und resilienten Anteile in Ihnen. Sie lernen wieder zu erspüren, wie sich körperlich empfundene Sicherheit anfühlt und stärken diese Wahrnehmung.
Dazu arbeiten wir mit Achtsamkeits-Übungen, um das Gewahrsein im Hier und Jetzt zu verankern und das wachsende Gefühl von innerer Stabilität zu festigen. Nach und nach bauen wir ein Fundament auf, von dem aus Sie sich Ihren Trauma-Inhalten vorsichtig stellen können.
Entscheidend hierbei ist, dass Sie zu jeder Zeit eine körperliche Sicherheit empfinden und nicht erneut vom Trauma überwältigt zu werden können.
Mit kleinen Schritten in die Freiheit
Deshalb arbeiten wir mit dem Prinzip der Titration.
In der chemischen Analyse bezeichnet Titration ein tröpfchenweises Vorgehen. In der Psychotherapie ist der Begriff eine Metapher für die Arbeit in sehr kleinen Schritten geworden. Dabei geben wir dem Körper die Möglichkeit, vergangene Erlebnisse schonend zu integrieren.
Die Titration kann als Gegenentwurf zur Katharsis verstanden werden, bei der sehr grosse Energiemengen aktiviert und bearbeitet werden.
Durch das Gehen in kleinen Schritten ergibt sich die Gelegenheit, immer wieder innezuhalten und zu erspüren, ob Sie hier und jetzt weiter gehen möchten. So lässt sich eine erneute Überwältigung durch Trauma-Inhalte wirksam vermeiden.
Der Verstand darf ruhen
Das Besondere an der Arbeit mit Somatic Experiencing ist, dass Sie sich nicht an Ihr Trauma erinnern müssen – Sie müssen nicht davon berichten können.
Die Arbeit mit dem Körper kann ihre heilsamen Effekte entfalten, ohne Sie vorher mit schmerzhaften Bildern konfrontiert zu haben. Ihr Trauma darf aus guten Gründen von Ihnen vergessen worden sein: Ihr Körper wird sich erinnern.
Sie dürfen hier bereits beginnen, loszulassen und zu vertrauen. Sie können darin die Intelligenz Ihres Körpers und seine ausgeprägte Fähigkeit zur Selbstheilung erkennen. Sie können ein erstes Gefühl dafür bekommen, welch' fähigen und vielseitigen Verbündeten Sie dauerhaft an Ihrer Seite haben.
Was kann passieren, wenn Sie es wagen, das Erleben des gegenwärtigen Moments einmal an Ihren Körper abzugeben?
Somatic Experiencing: Die Ziele
Die Psyche ausdellen
Durch therapeutische Titration wird die zirkulierende Überlebensenergie in kleinen Schritten freigesetzt – und steht Ihnen dadurch wieder zur Verfügung.
Traumatische Schocks können von Ihrem Körper endlich verarbeitet und gelöst werden. Vielleicht entspannen sich Muskeln, die seit Jahrzehnten unter Dauerspannung stehen und glauben, eine verdrängte Lerneinheit für Sie festhalten zu müssen. Nach und nach kehrt Ihr Gefühl für Ihre angeborene Stärke, Entwicklungsfähigkeit und Resilienz zurück.
Im Prozess können Sie erleben, wie Sie seit einer schmerzhaften Erfahrung gereift und dem Trauma jetzt gewachsen sind. Nun können Sie diese mit offenen Augen und aufrechter Haltung neu definieren.
Ich bin überzeugt davon, dass Trauma heilbar ist und dass der Heilungsprozess ein Katalysator für tief greifendes Erwachen sein kann – ein Türöffner für emotionale und echte spirituelle Transformation.
– Dr. Peter Levine
Ihr Nervensystem findet seine so wichtige Fähigkeit zur Entspannung wieder und integriert die Erfahrung als wertvolle und nutzbare Lerneinheit. Dadurch wird der Raum möglicher Handlungen und Lösungsstrategien größer.
Das Ziel ist es, Ihren Weg vom »Ich kann nicht« zum »Ich kann« zu finden.
Eine uralte Kraft schenkt Erdung
Wir suchen gemeinsam nach Zentrierung, Erdung und innerer Balance.
Sie können eine Basis erhalten, mit der Sie ab sofort arbeiten können: Ein neues Gespür für Ihren Körper. Sie gewinnen die uralte Intelligenz ihres Körpers als echten Verbündeten zurück.
Wie kann sich ihr Erleben verändern?
Ist der Verstand nicht mehr so laut, werden wir plötzlich fähig, Stille wahrzunehmen. Dadurch nehmen wir eine tiefere und leicht übersehene Ebene des Seins wahr: Jeder Ton erwächst aus der Stille und geht wieder in sie über.
Klingt leicht und ist doch gar nicht so einfach: Sind Sie fähig, Stille wahrzunehmen?
Es ist nicht unser denkender Geist, der die Stille wahrnimmt – doch welcher Teil ist es dann?
Nach diesem Teil in uns zu lauschen führt automatisch in die Präsenz im gegenwärtigen Moment – in dem es übrigens niemals so viele Probleme gibt, wie ein verschreckter Geist uns erzählen möchte.
Weniger abgelenkt von fiktiven Szenarien werde Sie nach und nach fähig, Ihr Potential als Mensch zu realisieren.
Denke nicht nur mit deinem Kopf, denke mit deinem ganzen Körper.
– Eckart Tolle
Nun ist noch eine Frage ungeklärt: In welchem Moment wurde aus der Erkenntnis von Gazelle und Löwe eine Therapie, die uns zurück in unsere Kraft führen kann?
Und wo ist der Tiger?
Der Weg von der Theorie zur Therapie
Der Tiger
Nancy lebte in Amerika und war in ihrem Leben noch keinem Tiger davongelaufen.
Das änderte sich 1969 in einer Sitzung mit Dr. Peter Levine. Levine erforschte gerade die Trauma-Entstehung in Tieren – oder eher das Fehlen dieser.
Nancy suchte Behandlung wegen häufiger, intensiver Panikattacken. Entspannungsmethoden brachten jedoch keinen Fortschritt und verschlimmerten Ihren Zustand sogar noch. In einer historischen Behandlungsstunde veränderte Levine spontan seine Taktik.
In dreissig Minuten in die Freiheit
Dem plötzlich auftauchenden Bild eines lauernden Tigers folgend forderte er Nancy auf, vor ihm zu fliehen. Ihr Körper nahm den Impuls sofort auf. Ihre Beine fingen an zu zittern. Dann folgte sie seiner Aufforderung und begann, liegend, auf der Stelle zu laufen.
Dreissig Minuten lief sie. Ihre Hände wurden kalt, dann wurde ihr Körper heiss. Sie schwitze. Ihre Hautfarbe wechselte von blass zu lebendig und wieder zurück. Schliesslich wurde sie am ganzen Körper von einem heftigen Zucken und Schütteln erfasst.
Sie nahm spontane Atemzüge – als würde sie geatmet werden.
– Dr. Peter Levine, über die Sitzung mit Nancy
Als sie wieder sprechen konnte, erzählte Nancy von einer Situation aus ihrer Kindheit, an die sie sich nach erfolgreicher Flucht vor dem Tiger erinnert hatte. Sie wurde damals, mit vier Jahren, für eine Mandeloperation mit Äther betäubt. Sie erinnerte sich an eine panische Angst zu ersticken.
Nancy verdrängte dieses umnebelte Erlebnis – und verlor ihre natürliche Lebendigkeit. Später entwickelte sie schwere Angst- und Paniksymptome, Verdauungsprobleme, Migräne, und war chronisch erschöpft mit körperlichen Schmerzen.
Sie ging kaum mehr aus dem Haus und konnte nur schwer den Kontakt mit anderen Menschen halten.
Die Kraft unserer Instinkte
Durch die instinktiven Laufbewegungen konnte sich Nancys Nervensystem von der überschüssigen Energie befreien, die seit ihrem vierten Lebensjahr in ihrem Nervensystem zirkulierte.
Durch die einsetzende Betäubung konnte die damals mobilisierte Energie nie genutzt werden, um sie vor der wahrgenommenen Lebensgefahr zu schützen.
Nach der Sitzung wurden ihre Symptome deutlich schwächer, viele verschwanden völlig. Sie hatte nie wieder eine Panikattacke. Eine einzelne Sitzung veränderte ihr Leben – bei einer Nachuntersuchung fünf Jahre später waren keine der ursprünglichen Symptome mehr vorhanden.
Erfolg mit Symbolcharakter
Die Sitzung war ein Durchbruch für Nancy – und für Dr. Levine.
Sie verlor Ihre Ängste und gewann Ihre Lebendigkeit zurück.
Er verlor die Zweifel an seiner Theorie und gewann neue Einblicke in die Entstehung und Auflösung von traumatischen Schocks.
Die Botschaft war klar: Auch wir haben die Fähigkeit, Traumata wirksam zu verarbeiten und für einst bereitgestellte Überlebensenergie auch nach Jahren noch einen Kanal zu schaffen, um sie aus dem System zu leiten und wieder fähig zur so wichtigen Entspannung zu werden.
Der Anblick eines lauernden Tigers weckt Instinkte, die sonst begraben liegen.
Der Tiger wurde zum Symbol für Somatic Experiencing. Er symbolisiert eine uralte Kraft und Lebendigkeit in uns, die durch ein Trauma gefangen genommen wurde und sich nun gegen uns richtet.
Diese animalische Urkraft können wir jederzeit wieder entfesseln und in den Dienst unseres Wachstums stellen.
Kontakt zu Dr. med. Heiner Dörfler
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